Der optimierte Mensch und die Medizin. Mein Statement in einer Podiumsdiskussion (2019)

Vom 14. bis 16. November 2019 hielt die Viktor von Weizsäcker Gesellschaft — Forum für die Wissenschaften vom Menschen ihre 25. Tagung am Klinikum rechts der Isar der TU München ab. Am 15. November von 17 bis 18 Uhr fand eine Podiumsdiskussion zum Thema „Der optimierte Mensch und die Medizin“ statt. Die Moderation hatte Prof. Dr. Peter Henningsen (München).  Unter den sechs Diskussionsteilnehmern befand sich auch Prof. Dr. Fritz von Weizsäcker (Berlin), der die vorherige Arbeitssitzung moderiert hatte. Vier Tage später wurde er ermordet, unfassbar …

Siehe auch hier.

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Seite 4 des Tagungsprogramms

 

Hier das gesamte Tagungsprogramm online.

 

Der optimierte Mensch und die Medizin

Podiumsdikussion am 15.11.2019, 17:00 Uhr

Eigene Überlegungen/Thesen von Heinz Schott

Als Medizinhistoriker darf ich daran erinnern, dass die Idee von Optimierung und Enhancement keineswegs neu ist, denken wir etwa an eugenische Züchtungsmodelle oder Aphrodisiaka und Verjüngungsdrogen, die schon in der Antike eine Rolle spielten. Die Frage ist nur, in welcher Intensität und in welcher Totalität solche Ansätze für die alltägliche Praxis maßgeblich waren.

Vor allem im 19. Jahrhundert hat in der Medizin, die sich zunehmend auf die moderne Naturwissenschaft und Biologie stützte, eine radikale Wende zur alles durchdringenden Idee des optimierten Menschen stattgefunden. Sie erwuchs aus der wissenschaftlichen Normierung des Menschen, aus der scharfen Trennungslinie von normalem und pathologischem Befund, der Erfassung physiologischer Leistungsdaten und ihrer Abweichungen. Statistiken aller Art spielen hierbei eine entscheidende Rolle.

Um 1900 nahm die Methoden des Enhancement innovative Formen an, von der Schönheitschirurgie bis hin zu Versuchen der Verjüngung und Leistungssteigerung durch Hormongaben. Unter dem ideologischen Einfluss von Lebensreform, Naturheilbewegung, Zivilisationskritik und sozialreformerischen bzw. -revolutionären Bewegungen – angeregt u. a. von Darwin, Marx und Nietzsche – wurde auch in der Medizin der „neue Mensch“ als Zukunftsprojekt diskutiert, der durch erbbiologische Auslese bzw. ideologische Schulungsprogramme hervorzubringen sei. Rassenkampf und Klassenkampf ähnelten sich in ihrem Ziel frappierend.

Je dichter die gesellschaftlichen Verkehrsverhältnisse, bedingt durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt, im 20. Jahrhundert wurden, umso notwendiger erschienen die Methoden zur Erzeugung des optimierten Menschen. Er musste für das immer komplexere Räderwert des sozialen Lebens passend gemacht werden, durfte kein Sand im Getriebe sein, musste mitlaufen, nicht zu langsam, nicht zu schnell. Schlüsselbegriffe wie soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung, Inklusion etc. sind zu hinterfragen, inwieweit sie sich dem Prozess der Optimierung verschrieben haben, inwieweit Widerspenstigkeit, Widerständigkeit oder Krankheit nur als Störung des Normalbetriebs gelten.

Was bedeutet das für die Medizin, den kranken Menschen, den Arzt, die Heilberufe? Fünf kurze Anmerkungen (oder Thesen):

(1) Der einzelne Mensch, der individuelle Kranke, verschwindet im statistischen Mittel, in einer Kohorte. Im Mittelpunkt steht die (angeblich) evidenzbasierte Medizin mit ihren Leitlinien und Algorithmen. (Weizsäcker sprach von „Zahlenbarbarei“.)

(2) Die Frage der Freiheit des Menschen, gerade auch der Freiheit des Kranken, den die Medizin traditionsgemaß zum Unfreien erklärt, wird kaum diskutiert, soweit ich sehe. Die Spielräume für Kranke und Behinderte stehten nicht im Fokus der Biomedizin. (Weizsäcker sprach von der „Einführung des Subjekts“).

(3) Die Frage der Wahrheit und damit zusammenhängend die Reflexion des Verhältnisses von Glauben und Wissen, von Religion und Wissenschaft, ist für die Medizin im Allgemeine exterritoriales Gebiet. Damit hängt die Frage nach dem Sinn des Lebens zusammen, das bekanntlich unweigerlich im (zumindest biologischen) Tod endet. (Weizsäcker sprach von der „Solidarität dess Todes“.)

(4) In letzter Konsequenz wäre der optimierte Mensch in seiner höchsten Form — ein Automat, ein in der Masse eingefügter, gleichgeschalteter Un-Mensch. Er wäre perfekt an die herrschenden Normen angepasst und würde restlos in ihnen aufgehen. Die Begriffe der Freiheit und Wahrheit und Würde des einzelnen Menschen wäre dann obsolet geworden. Steht ein solcher Zustand bevor?

(5) Die Kulturgeschichte zeigt – und das ist vielleicht tröstlich -, dass alle doktrinär-politischen Versuche, den „neuen“ Menschen zu schaffen, kläglich gescheitert sind. Der Mensch – einzeln oder in der Masse – bleibt letztlich unberechenbar, in gewisser Weise „unheimlich“. Oder positiv gewendet im Hinblick auf ein historisches Vorbild aus der frühen Neuzeit: Der alchemistischen Natuforschung (Naturmystik) ging es neben der Reinigung der Stoffe zugleich um die des Geistes, um spirituelle Erleuchtung, eine Selbstanalyse, die zu einer Art Unio mystica führen kann. Statt mit einer optimierenden Gleichschaltung des Menschen, eines medical engineering, hätten wir es hier mit seiner individuellen Befreiung als Subjekt zu tun. Inwieweit die medizinische Anthropologie dazu beitragen kann, ist die Frage.