„Du weißt, geliebte Königin …“: Novalis und die Magie der Natur (2017)

Diesen Vortrag habe ich im Rahmen der Festwoche zum 245. Geburtstag von Georg Philipp Friedrich von Hardenberg (Novalis) vom 4. bis 7. Mai 2017

„’Construction der transscendentalen Gesundheit‘: Novalis und die Medizin im Kontext von Naturwissenschaften und Philosophie um 1800“

am 6. Mai 2017 im Schloss Oberwiederstedt gehalten, wo Novalis am 2. Mai 1772 geboren wurde.

Hier mein Redemanuskript als PDF.

Hier die dazugehörige Powerpoint-Präsentation.

Update vom 15.04.2020:

Der betreffende Artikel erschien soeben im Sammelband:

Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik

herausgegeben von der Internationalen Novalis-Gesellschaftin Zusmmenarbeit mit der Forschungsstätte für Frühromantik Schloss Oberwiederstedt

Jahrgang 5/2019 (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019), S. 39-57.

In diesem Blog-Beitrag der Link zur PDF.

 

„Triebabfuhr“ oder „unio mystica“? Kontroverse Leitbilder des Sexuallebens in medizinhistorischer Perspektive (Vortrag 2013)

Vortrag auf dem „Auditorium XX“ zum Rahmenthema „Sexuelle Orientierung — orientierende Sexualität“ am 28. September 2013 in Düsseldorf

Link zum Programm: http://dasauditorium.de/cms/

Dieser Vortrag basiert im Wesentlichen auf dem letzten Abschnitt meines Buches „Magie der Natur. Historische Variationen über ein Motiv der Heilkunst“ (Kap. 43-49) , das demnächst erscheinen wird. Eine vollständige Vorschau bietet mein Magic of Nature Blog, hier der Link zur Einleitung des letzten Abschnitts:

Eros – Liebeszauber zwischen Sex und Mystik [Überschrift und Motto für Kap. 43-49]

Die Verweise auf die Folien im Text beziehen sich auf die PPT-Präsentation:

https://drive.google.com/file/d/0ByekXtB9kRIyc3p3dF9raGJVQVU/edit?usp=sharing

Schauen wir heute in die Medien, etwa ins Internet mit seinen Portalen für Partnervermittlung, blind dates und Pornos, oder nehmen wir die Produktwerbung oder das Design von Gebrauchsgegenständen unter die Lupe, kommen wir unweigerlich zum Schluss, dass die vom Menschen gestaltete Welt, sozusagen seine zweite Natur, rundum mit sexueller Bedeutung aufgeladen ist. Dabei scheint der Begriff der Sexualität heute klar definiert zu sein, ebenso seine interne Ausdifferenzierung, als da sind: Hetero-, Homo- und Bisexualität, sowie alle möglichen so genannten sexuellen Vorlieben, die vor noch nicht allzu langer Zeit als Perversionen bezeichnet wurden. Ich möchte nun nicht eine bestimmte Untergruppe wie etwa die Homosexualität und ihre soziale oder psychologische Bewertung beleuchten, sondern noch einen Schritt dahinter zurückgehen und den Begriff der (menschlichen) Sexualität überhaupt zur Diskussion stellen. Er leidet nach wie vor unter einer ungeheuren Verengung und Fixierung auf vermeintlich biologische Naturprozesse, auf Reflexvorgänge, die keiner geistigen Beeinflussung und Modulierung zugänglich zu sein scheinen. Nun gibt es in der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte freilich auch eine andere Perspektive, wonach diese sexuellen Reflexvorgänge geistig so verändert und gelenkt werden können, dass sie sogar mystisches Erleben ermöglichen, ja, Mystik und Sexualität an einem bestimmten Punkt miteinander verschmelzen können. Insofern möchte ich dem Modell der biologischen Triebabfuhr das der geistigen „unio mystica“ entgegensetzen und damit ein ganz anderes, spirituelles Leitbild von Sexualität thematisieren, das in Wissenschaft, Medizin und Alltagsleben heutzutage keine Rolle spielt. Ich werde im Folgenden in fünf Schritten vorgehen.

(1) Geschlechtstrieb als Naturtrieb: Zur normativen Wissenschaft

Was heißt „Sexualität“ und „sexuell?“ Scheinbar verweisen diese Wörter auf einen unumstößlichen Tatbestand, wonach der Mensch ein Art Doppelwesen darstellt: nicht nur von Vernunft und Bewusstsein gesteuert, sondern mindestens ebenso auch vom Trieb (Instinkt) und Unbewussten. Die Triebe und vor allem der Geschlechtstrieb, wurden traditionell als „Natur-Triebe“ aufgefasst, als „Thier im Menschen“, wie es der Leipziger Philosoph Karl Heinrich Heydenreich im Sinne der Aufklärung um 1800 ausdrückte.[1] Er meinte, das Verderben der gegenwärtigen Gesellschaft liege darin, den „heiligen Trieb der Natur“ nur zu einem frivolen Spiele zu missbrauchen. Der Geschlechtstrieb sei „zu einem Spielwerke für unsere spaßhafte Laune“ gemacht, „mehr und mehr verunedelt“ worden.[2]

Dieses Denken sollte 100 Jahre später im wissenschaftlichen Diskurs gerade der Medizin triumphieren. Denn um 1900 wurde dort die menschliche Sexualität rigoros naturalisiert bzw. biologisiert. Naturgesetzlich festgelegte biologische Abläufe galten als unumstößliche Tatsachen, die zu verletzen Degeneration, Krankheit und letztlich Tod bedeuteten. Sie waren der Maßstab für ein gesundes Sexuallebens und für alle therapeutischen Maßnahmen, seine Störungen zu beheben und pathologischen Abweichungen zu bekämpfen. Die Naturalisierung der Erotik und vor allem die Reduktion der Geschlechterrollen auf die biologisch fixierten Unterschiede gegen Ende des 19. Jahrhunderts kann man  mustergültig in einem Hauptwerk der neu entstehenden Sexualmedizin bzw. Sexualwissenschaft beobachten. Der Wiener Psychiater Richard von Krafft-Ebing (1840-1902) definierte in seinem einflussreichen Standardwerk „Psychopathia sexualis“ den sogenannten Naturtrieb in seinen geschlechtsspezifischen Varianten lapidar: „Ohne Zweifel hat der Mann ein lebhafteres geschlechtliches Bedürfniss als das Weib. Folge leistend einem mächtigen Naturtrieb, begehrt er von einem gewissen Alter an ein Weib. […] Dem mächtigen Drange der Natur folgend, ist er aggressiv und stürmisch in seiner Liebeswerbung.“[3] Anders sei das Weib veranlagt. „Ist es geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein. Jedenfalls sind der Mann, der das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenusse nachgeht, abnorme Erscheinungen.“ Somit unterscheide sich das Weib in der Wahl des Lebensgefährten fundamental vom Mann: Des Weibes „seelische Richtung“ sei „eine monogame, während der Mann zur Polygamie hinneigt.“[4]

Diese normative Fixierung des „naturgemäßen“ Sexualverhaltens durch die höchsten wissenschaftlichen Autoritäten war seinerzeit unerbittlich. Alles, was sich ihr nicht fügte, galt als eine „Perversion“: „Als pervers muss – bei gebotener Gelegenheit zu naturgemässer geschlechtlicher Befriedigung – jede Aeusserung des Geschlechtstriebs erklärt werden, die nicht den Zwecken der Natur, i. e. der Fortpflanzung entspricht“, meinte Krafft-Ebing.[5] Dies betraf vor allem die Homosexualität oder „conträre Sexualempfindung“. Das Erstaunliche sei, dass – anders als beim Zwitter – „vollkommen differenzierte Zeugungsorgane“ vorhanden seien, „so dass also, gleichwie bei allen krankhaften Perversionen des Sexuallebens, die Ursache im Gehirn gesucht werden muss“.[6] Homosexualität wurde also letztlich als eine Gehirnkrankheit begriffen. Die homosexuelle Einstellung, „diese eigenartige Geschlechtsempfindung“, erschien Krafft-Ebing als „ein funktionelles Degenerationszeichen und als Theilerscheinung eines neuro(psycho)pathischen, meist hereditär bedingten Zustands“.[7] Vielfach lasse sich dieser Zustand auch durch „anatomische Entartungszeichen“ bemerken, fast immer sei „Neurasthenie“ nachweisbar. „Geweckt und unterhalten wird sie durch Masturbation oder durch erzwungene Abstinenz“, so dass sich eine „Neurasthenia sexualis“ ausbilde, die sich „in reizbarer Schwäche des Ejaculationscentrums“ kundgebe.[8]

Wenn nun diese Auffassung von Homosexualität, Masturbation und Geschlechterrollen heute sicher einhellig zurückgewiesen wird: Bedeutet dies, dass der normative Biologismus per se überwunden ist? Keineswegs, wie ich zeigen werde.

(2) Orgasmus als physiologischer Reflex: Zur biologistischen Ideologie

In der Heilslehre des bis heute umstrittenen Psychoanalytikers und Sozialrevolutionärs Wilhelm Reich stand der Orgasmus bzw. die Orgasmusfähigkeit im Zentrum.  Bereits 1927 hatte er deren biologische und politische Bedeutung in seiner Schrift „Die Funktion des Orgasmus“ thematisiert.[9] Die Schrift erschien in einer von Sigmund Freud herausgegebenen Schriftenreihe. (Folie) Paradoxerweise hat gerade die Freudsche Psychoanalyse, welche die naturwissenschaftliche Medizin psychologisch transzendieren und anthropologisch reformieren wollte, mit dazu beigetragen, die biologistische Auffassung der Sexualität zu bekräftigen. Interessanterweise veranschaulichte Reich den Sexualakt anhand von „Erregunskurven“, wie sie auch anderweitig in Physiologie und klinischer Medizin nach dem Vorbild der „Fieberkurve“ verwendet wurden.

Reich skizzierte den Verlauf der „typischen Phasen des Geschlechtsaktes mit orgastischer Potenz bei beiden Geschlechtern“ als die Kontur eines Bergs, der auf einer Zeitachse stand. (Folie) Der flachere Anstieg war links vom Gipfel, der steilere Abfall rechts. Beim Anstieg verläuft die Erregungslinie stufenförmig nach oben (in 12 oder 13 Stufen an der Zahl), was wohl die stimulierende Wirkung der einzelnen Koitus-Bewegungen symbolisieren soll und an das Bild eines Treppenaufstiegs erinnert. In den 1920er Jahren war Reich radikal über Freud hinausgehend zum Schluss gelangt, dass die seelische Erkrankung nicht eine sexuelle Störung im weiteren Sinne, sondern die Folge der Störung der „genitalen Funktion, im strengen Sinne der orgastischen Impotenz“ sei.[10] Er reduzierte die sexuelle Problematik auf den „sexualökonomischen Energieverlauf“ beim Geschlechtsverkehr und gelangte so zu seiner idealtyptischen Erregungskurve. Die Phase der Spannung und die der Entspannung wurden als einfache Linien gezeichnet, die auf einen Gipfelpunkt hin- bzw. von ihm weglaufen. (Folie) Eine Hemmung der Entspannung entsprach somit einer „gestörten Sexualökonomie“ oder „Stauung“. Die betreffende Zeichnung erinnert an einen Reflexbogen, wie er als ein Grundmodell der Neurophysiologie schon im 19. Jahrhundert etabliert worden war.

Bereits ein Jahr zuvor, 1926, hatte der niederländische Gynäkologe Theodor van de Velde sein später in viele Sprachen übersetztes Buch „Die vollkommene Ehe“ veröffentlicht, das wegen seiner freizügigen Darstellungen Furore machte und sogar vom Vatikan auf den Index gesetzt wurde.[11] Dem Autor ging es einzig und allein um die heterosexuelle Konstellation in der „Hoch-Ehe“. Homosexualität oder „Perversionen“ waren für ihn indiskutabel. Als ein Mittel der Rettung der Ehe sei „die rechtzeitige Verstärkung der sexuellen Anziehungskräfte, so daß die entgegengesetzten [d. h. Abstoßungskräfte] überhaupt nicht in die Lage kommen, sich zu offenbaren.“ Auf diesem Wege sollte die „Hoch-Ehe“ „durch Ausbildung der Technik der gegenseitigen Geschlechtsbefriedigung, weit über das in der jetzigen Ehe Übliche hinaus“ erreicht werden.[12] Van de Velde gab eine minutiöse Beschreibung des „normalen, ‚gesunden’ Coitus“, die an die Gebrauchsanleitung für ein Küchengerät  erinnert. So entwarf van de Velde Verlaufskurven der „Vergattung“, die den „Erregungskurven“ des Orgasmus von Wilhelm Reich entsprachen.

Die Graphiken eines missglückten Koitus erinnern an Fieberkurven, die mit einem angeblich gesunden Idealverlauf verglichen werden. Alle davon abweichenden Verläufe erscheinen als ungenügend oder „abnormal“. So wird „A. Ideale Vergattung“ (Folie) kontrastiert mit „B. Coitus ohne Vorbereitung der erfahrenen Frau“ und „C. Coitus mit einer unerfahrenen Frau nach vorhergehendem Reizspiel“ (Folie) sowie „D. Coitus mit einer unerfahrenen Frau ohne genügende Vorbereitung“ und „E. Coitus interruptus“. (Folie) Letzterer gehöre eigentlich nicht mehr zur Physiologie, da er eine „abnormale geschlechtliche Handlung“ darstelle. Denn für „sexuell vollwertige Menschen“ bedeute der „systematische Coitus interruptus […] eine Abwürgung der Ehe, eine Gefahr für die Gesundheit des Mannes und ein Verbrechen an der Frau.“[13]

Van de Velde polemisierte deshalb gegen asiatische Sexualpraktiken (die er gründlich missvestand), gegen eine Übertreibung bei den „Hindus, Javanern und anderen Bewohnern des Morgenlandes“. „Was ich aber wohl als sicher betrachte, ist, daß dieses Verfahren für Kulturmenschen der weißen Rasse schon aus ästhetischen Rücksichten nicht in Frage kommt.“[14] Denn nach van de Veldes Theorie der „richtigen Vergattung“ bedeutete die Immissio penis ohne Ejakulation ein „wirklicher Exzeß“, „eine Vergattung – die keine ist.“ Entsprechend abartig erschien ihm die Sexualpraktik der „Karezza“, die wir noch eingehender beleuchten werden.

Mit dem Kinsey-Report (1948/1953) und der sich anbahnenden „sexuellen Revolution“ in den 1960er Jahren rückte der Orgasmus der Frau verstärkt in den Blickpunkt von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Ein Schüler von Wilhelm Reich, der US-amerikanische Arzt und Psychotherapeut (Körpertherapeut) Alexander Lowen prägte ab den 1960er Jahren nachhaltig den Begriff des Orgasmus in seiner gegenwärtigen Bedeutung. Mit seinem Buch „Liebe und Orgasmus“ wollte er einen „Weg zu menschlicher Reife und sexueller Erfüllung“ aufweisen.[15] Er wandte sich in leicht verständlicher Sprache an eine breite Öffentlichkeit, wobei er sich auf langjährige ärztliche Erfahrungen stützte. Im Mittelpunkt des therapeutischen Bemühens standen die „orgastische Impotenz“ bei beiden Geschlechtern.

Lowens mechanistisch-biologistische Normierung des idealen (selbstverständlich heterosexuellen) Geschlechtsakts war frappierend. „Das Becken sollte sich mit der Geschmeidigkeit einer gut geölten Türangel bewegen […]. Beim Mann kommt der Bewegungsstoß von den Beinen und ist völlig vom Ich beherrscht. Während der Mann durch seine Beine ‚geerdet’ ist, ist die Frau in der Rückenlage durch den Kontakt zwischen ihren Beinen und dem Körper des Mannes an ihm ‚geerdet’. Dadurch können sich ihre Bewegungen mit den seinen synchronisieren.“ Damit erhob Lowen die klassische „Missionarsstellung“ zur Norm, die eine Hierarchie der Geschlechter definierte: Der Mann schien direkt an der Erde, die Frau direkt am Mann „geerdet“. Somit war klar, wer wen missionierte.

Als physiologische Voraussetzung des Orgasmus beim Sexualverkehr erscheint heute primär die Potenz (potentia coeundi) des Mannes. Impotenz hat Krankheitswert und ist schon längst zu einem wichtigen Gegenstand von Sexualmedizin und Andrologie geworden. Welche Bedeutung dem Steifwerden des „männlichen Gliedes“ zum geforderten Zeitpunkt gegenwärtig beigemessen wird, mag man am Viagra hype ermessen, der dem betreffenden Pharma-Konzern ein unüberbietbares Milliardengeschäft beschert. „Alternative“ Potenzmittel berufen sich auf die Magie der Natur, um dem Übel abzuhelfen. (Folie) So lautet ein Werbetext für „Vital G MAX“, womit die erektile Dysfunktion angeblich „diätetisch“ behandelt werden soll. „Mit diesem Mittel aus der Apotheke von Mutter Natur. Mit Vital G MAX bekommen Sie kräftige Helfer für Ihre harte und ausdauernde Männlichkeit. Damit tanken Sie den Sex-Kraftstoff von Mutter Natur.“[16]

(3) Der „sexuelle Reaktionszyklus“: Goldstandard der Sexualwissenschaft

Für die Sexualmedizin wurde gleichzeitig mit der „sexuellen Revolution“ der 1960er Jahre − sicher auch unter dem Einfluss der Vorstellungen von Reich und Lowen − die Theorie der „sexuellen Reaktion“ von Masters und Johnson maßgeblich.[17] (Folie) Der so genannte sexuelle Reaktionszyklus läuft demgemäß in vier Phasen ab:  (1) Erregungsphase, (2) Plateauphase, (3) Orgasmusphase und (4) Rückbildungsphase. Dabei verlaufe trotz der geschlechtsspezifischen Unterschiede der Reaktionszyklus bei Mann und Frau erstaunlich ähnlich.[18] Damit schien ein quasi naturgesetzliches Raster vorgegeben, das bis heute wissenschaftliche Geltung beansprucht und auch in Handbüchern der Sexualmedizin als Goldstandard gehandelt wird.

Diese Theorie vom sexuellen Reaktionszyklus erscheint als naturwissenschaftlich gesicherte Grundlage, auf der alle möglichen sexualmedizinischen Studien aufbauen. Jeder Phase des Reaktionszyklus lassen sich somit bestimmte Störungen zuordnen. So werden etwa in einer neueren Übersichtsarbeit die Sexualstörungen des Mannes „nach ihrem Auftreten im sexuellen Reaktionszyklus (Appetenz-, Erregungs-. Orgasmus- und Rückbildungsphase) unterteilt.“[20] Es stellt sich die Frage, inwieweit nicht auch die heutige Sexualmedizin trotz aller „psychosozialen“ Erweiterungen letztlich biologistisch argumentiert.

Ein weiteres Beispiel für das (relativ) biologistische Verständnis der Sexualität nach der „sexuellen Revolution“ der 1960er Jahre bietet das umfangreiche Standardwerk „Die Sexualität des Menschen“ (1983) des deutschen Sexualwissenschaftlers Erwin J. Haeberle (geb. 1936).[21] Auch hier wird die Vier-Phasen-Theorie von Masters und Johnson als grundlegende Lehre referiert und − für Mann und Frau getrennt − breit ausgewalzt. Der Orgasmus erscheint als normales Ziel im „Zyklus der sexuellen Reaktion“, das der Mann leichter erreichen könne als die Frau: „Fast alle Mäner, die die Fähigkeit zur Erektion besitzen, sind auch zum Orgasmus fähig. Das heißt: im Gegensatz zu Frauen, die oft Schwierigkeiten haben, über die Plateauphase hinauszukommen, können sich Männer normalerweise darauf verlassen, den ganzen Zyklus der sexuellen Reaktion zu erleben.“[22] Die physiologischen Abläufe würden unwillkürlich, automatisch verlaufen.

Haeberle warnte jedoch davor, vom (biologischen) Sein aufs (ethische) Sollen zu schließen. Denn was als „natürlich“ oder „widernatürlich“ zu gelten habe, hänge vom jeweiligen moralischen Wertsystem ab: „Natur als solche ist wertfrei, sie kennt keine Bevorzugung, keine Richtung, kein Endziel.“[23] So sei „widernatürlich“ ein Werturteil und keine Tatsachenbehauptung.[24] In dieser Sicht sei „Natur“ eine Ideologie gewesen, demgegenüber „Wissenschaft“ dem Menschen ermöglicht habe, „die Natur unvoreingenommen zu betrachten.“[25] Hier wird die typische Einstellung oder Hybris moderner Lebenswissenschaftler sichtbar: nämlich die Überzeugung, die Natur objektiv erfassen und ihre Kausalgesetze ohne Vernebelung durch normative Moralvorstellungen aufzudecken zu können. Der Begriff des Orgasmus in der Sexualwissenschaft, wie ihn Haeberle verwendet, ist hierfür ein Beispiel.

 

(4) „Heilige Hochzeit“: Sexualität in Mythologie und Mystik

Als Medizinhistoriker wage ich nun in aller Kürze einen Sprung in eine ideologische Gegenwelt zum Triebabfuhr-Modell und spanne gewissermaßen eine historische Kontrastfolie zu ihm auf. Die Heilige Hochzeit (griech. hierós gámos), vielfach auch als Himmlische Hochzeit bezeichnet, ist ein elementarer Bestandteil in den Zeugnissen von Mythologie und Mystik, Hermetismus und Kabbala, Alchemie und Naturphilosophie. Sie handelt von göttlicher Vermählung, unio mystica, himmlischer oder „chymischer“ Hochzeit. Hierbei geht es um eine Vereinigung von Göttern, von Göttern und Menschen oder auch von Menschen untereinander. Insofern die Natur als göttlich angesehen wurde, konnte auch die Naturmystik von Naturforschern und Ärzten als Heilige Hochzeit aufgefasst werden. In der Wissenschafts- und Medizingeschichte waren solche Verschmelzungserlebnisse von Naturforschern und Ärzten mit den Naturdingen für bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse und Theoriebildungen oft von entscheidender Bedeutung (z. b. J. B. van Helmont). Bei keinem anderen Thema der Ideen- und Kulturgeschichte ist die Versuchung, historischen Zeugnissen das gegenwärtige, von Biologie und Psychologie geprägte Menschenbild überzustülpen, so groß wie bei der Heiligen Hochzeit. Sie wird heutzutage biologisiert, indem man sie als einen ins Kosmische projizierten Sexualakt ansieht, und sie wird psychologisiert, indem man sie auf einen innerpsychischen Prozess der Reifung oder „Individuation“ nach C. G. Jung  reduziert.

Die „Brautmystik“ im christlichen Abendland lässt sich als ein Beispiel für die  Heilige Hochzeit begreifen: Christus als Seelenbräutigam, die menschliche Seele als Braut. Die Rollenverteilung der Geschlechter war eindeutig: Christus in der männlichen, die Seele in der weiblichen Rolle. Insofern erscheint es naheliegend, dass in der Mystik gerade Frauen prädisponiert waren, sich in ihrer unio mystica mit Christus zu vereinigen, wie es beispielsweise die Visionen der Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert offenbarten.  Vielfach wurden die spirituellen Erlebnisse der unio mystica mit erotischen Farben ausgemalt. Sie drückten eine allumfassende, grenzenlose „Liebe“ aus, die im Gefühlsleben keine scharfe Trennung zwischen abstrakter und konkreter, geistiger und körperlicher Vereinigung zuließ. Hildegard von Bingen habe, so heißt es in ihrer Lebensbeschreibung der Mönche Gottfried und Theoderich, ihr mystisches Erleben als eine „Heimsuchung“ empfunden, dass nämlich „ihr geliebter himmlischer Bräutigam Jesus Christus wirklich seine Hand – d. h. die Wirksamkeit und Eingebung des heiligen Geistes – durch die Öffnung – d. h. durch seine geheime Gnade – gereicht hatte und daß ihr Leib – nämlich ihr Herz – erbebte bei seiner Berührung, das heißt, beim Eingießen seiner Gnade, wegen der ungewöhnlichen Kraft des Geistes […], die sie innerlich spürte.“[26]Von solchen Verschmelzungserlebnissen berichtete Hildegard mehrfach. Deren erotische Qualität war offenbar nicht vom Alter der Seherin abhängig. Auch noch mit etwa 70 Jahren, während einer weiteren Krankheitsperiode, sei „die Braut Christi einer Heimsuchung von oben“ gewürdigt worden: „Der Schönste und Innigstgeliebte erschien mir in einer wahren Schau. Er erfüllte mich mit solch starkem Trost, daß mein Innerstes bei seinem Anblick wie ein Balsamduft durchströmt wurde. Da jubelte ich vor großer, unermesslicher Freude und wünschte sehnlichst, ihn immer anzuschauen.“[27] Eine weiteres herausragendes Beispiel unter vielen anderen wäre die Brautmystik der Teresa von Avila im 16. Jahrhundert, die zwei Stufen der Vereinigung voneinander unterschied: die „geistige Verlobung“ und die „mystische Vermählung“.[28] (Folie) Darauf können wir hier nicht eingehen.

 

  1. Mystische Erotik: Zum Leitbild spiritueller Sexualpraktiken

Sexualität erscheint heute in zweierlei Hinsicht enttabuisiert. Zum einen wird der Mensch als biologisch fassbares Triebwesen verstanden, der auch noch im letzten seiner Gemütswinkel vom Geschlechtstrieb bedrängt wird; zum anderen wird Sexualität als Bühne der öffentlichen performance benutzt, auf der der Mensch seine Bedürfnisse endlich offen ausleben kann. Damit geraten zwei Dimensionen des Eros ins Abseits: die von der biologischen Sexualsphäre scheinbar abgekoppelte Macht des Geistes und die sinnlich-private Erfahrung des Eros. Es gibt eine uralte aus dem asiatische Kulturraum stammende Tradition von speziellen Sexualpraktiken, die sich als Ausdruck einer geistigen, d. h. religiösen Vereinigung begreifen. Hierbei wird die Ejakulation des Mannes vermieden und der übliche Orgasmus in ein mystisches Verschmelzungserlebnis transformiert. Das „Tantra“ bzw. der „Tantrismus“ wären hier an erster Stelle zu nennen. Darauf kann ich hier nicht eingehen, insbesondere nicht auf die recht unterschiedlichen Formen mit ihren zum Teil fragwürdigen Vorstellungen und Praktiken. Die Dinge sind keineswegs so simpel auf einen Nenner zu bringen, wie uns neuere Tantra-Massage-Anbieter weismachen wollen.

Ich möchte mich im Folgenden auf eine bestimmte westliche Tradition konzentrieren, die im Zusammenhang mit der Lebensreform- und insbesondere der Sexualreformbewegung im späten 19. Jahrhunderts begründet wurde. Es gab in dieser Zeit esoterische Zirkel und Sekten in Europa und vor allem den USA, die magische Sexualpraktiken mit zum Teil bizarren und höchst phantastischen Ritualen ausübten. Hierbei spielten mesmeristische Praktiken der magnetischen Vereinigung durch die Übertragung von Fluidum oder Lebensenergie kombiniert mit christlich-religiösen Motiven eine zentrale Rolle. Ich will im Folgenden nur ein Konzept in den Blick nehmen, das von einer Ärztin begründet und im Sinne einer sozialmedizinischen Sexualreform mit Erfolg propagiert wurde, nämlich die so genannte „Karezza“. Der Begriff wurde in Anlehnung an das italienische Wort carezza“ (Liebkosung) von der US-amerikanischen Frauenärztin, Lebensreformerin und Frauenrechtlerin Alice Bunker Stockham geprägt, die sich der Ehe- und Sexualreform verschrieben hatte. 1896 veröffentlichte sie im Selbstverlag ein Büchlein mit dem Titel „Karezza. Ethics of Marriage“.[29] Eine deutsche Übersetzung erschien bereits im folgenden Jahr.

Für Stockham lagen zwischen der gewöhnlichen Begattung und der Karezza-Vereinigung Welten, wie sich aus der Gegenüberstellung der beiden folgenden Zitate aus ihrem Buch ersehen lässt: „Der gewöhnliche hastige und krampfartige vorgang einer begattung, auf die man sich nicht längere zeit vorbereitet hat und wobei die frau die passive rolle spielt, ist ebenso unbefriedigend für den mann wie für die frau. Er ist schädlich für den körper wie für den geist. Er enthält in sich keine folgerichtigkeit als eine äußerung der zuneigung und ist häufig eine ursache der entfremdung und trennung.“[30] Im Kontrast dazu erscheint die Karezza-Vereinigung als befriedigend, gesunderhaltend und als Himmel auf Erden: „Während einer längeren zeit völliger beherrschung sind beide wesenheiten völlig ineinander getaucht und erleben ein unvergleichliche erhöhung in den geist. Das mag begleitet sein durch eine ruhige bewegung, die ganz unter der botmäßigkeit des willens stehen muß, so daß bei keinem der beiden der schauer der leidenschaft die grenzen eines angenehmen gefühlsaustausches überfluten kann. […] Bei gegenseitiger übereinstimmung und genügender zeitlicher ausdehnung führt ein solcher verkehr ohne samenerguß und ohne krisis zu völliger befriedigung. Im verlaufe einer stunde klingt die körperliche spannung aus, die geistige verzückung wächst und führt nicht selten zum schauen höherer welten und zum bewußten erleben neuer kräfte.“[31]

Die Autorin verband in ihrer Argumentation einen vitalistischen mit einem spirituellen Grundsatz: Die „schöpferische Kraft“ oder „Energie“ kann und soll geistig beherrscht und gelenkt werden. Der Mensch könne frei und bewusst einen der beiden Pfade wählen, „den des geistes oder den der materie“.[32] Freilich seien Religion und Philosophie „erforderlich, um leidenschaft zu heiligen.“[33] Der Schlüsselsatz lautet: „Auf keinem andern gebiete kann beherrschung den menschen reicher belohnen als in der meisterung unnd heiligung der sexuellen energie.“ Durch „liebe, übung und selbstbeherrschung“ könnten auch Verheiratete durch „vereinigung ihrer beiden seelen“ diese „schöpferische energie“ bedeutend steigern.[34] Sie könne auch als Heilkraft eingesetzt und absichtlich geleitet werden, um „einen freund von kummer und schmerzen zu befreien.“[35]

Stockham war als praktizierende Ärztin in Fragen zu Ehe und Sexualität offenbar eine begehrte Ratgeberin. Die im Anhang ihres Buches abgedruckten Korrespondenzen belegen, dass sie zahlreiche Menschen dazu motiviert hat, die Karezza-Technik praktisch auszuüben. Stockham bezog sich auf eine Reihe von anderen Autoren, die um 1900 in den USA publizierten und von denen sie sich bestätigt sah. Leo Tolstoi, zu dem Stockham freundschaftliche Kontakte pflegte, war so begeistert, dass er eine Übersetzung ins Russische veranlasste und ein Vorwort verfasste.[36]

Es ist bemerkenswert, dass die Karezza-Idee weder in der Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des 20. Jahrhunderts insgesamt, noch bei der „sexuellen Revolution“ und der Studentenbewegung seit den 1960er Jahren eine nennenswerte Rolle spielte. Obwohl Karezza ursprünglich als Mittel der Ehereform mit dem praktischen Ziel der Geburtenkontrolle propagiert, war diese Liebestechnik nicht explizit nur dem heterosexuellen Geschlechtsverkehr vorbehalten. Stockham ging an keiner Stelle auf die Homosexualität ein (sie schloss sie eher stillschweigend mit ein, hat man den Eindruck) − im Unterschied zur Orgasmuslehre von Reich und Lowen, wonach Homosexualität grundsätzlich pathologisch und pathogen war.

 

Fazit: 

Es kann nicht darum gehen, die Dogmatik der gegenwärtigen Sexualwissenschaft und Sexualmedizin durch eine esoterische Heilslehre zu ersetzen, gleichsam zu konvertieren – also einem Eskapismus in eine scheinbar ideale Gegenwelt zu frönen, sei es im Sinne alternativmedizinischer, ökologischer oder religiöser Sekten. Vielmehr ist kritisch zu erforschen, welche emotionalen und geistigen Qualitäten menschliche Sexualität überhaupt haben und inwieweit sie spirituelle, kosmische oder religiöse Dimensionen aufweisen kann − und sollte. Wahrscheinlich ist − neben der Beherrschung von Hass und Aggression − die bewusste Auslenkung der biologisch ablaufenden Sexualprozesse hin zum Reich der geistigen Freiheit die größte Aufgabe der Erziehung und Selbsterziehung des Menschen. Der Freudsche Begriff der Sublimierung weist in diese Richtung, geht es doch letztlich nicht um Unterdrückung, sondern um eine umfassende Entfaltung der Sexualität in all ihren Spielarten. Dann ist letztlich nicht mehr die Frage, was normal und was pathologisch (was hetero- oder homosexuell) ist, sondern ob etwas frei mit göttlicher Liebe oder zwanghaft mit tierischer Brutalität geschieht.

[1] Heydenreich, 1798, S. 11. [2] A. a. O., S. 27. [3] Krafft-Ebing [1886], 1894, S. 14. [4] A. a. O., S. 15. [5] A. a. O., S. 56. [6] A. a. O., S. 231 f. [7] A. a. O., S. 233. [8] A. a. O., S. 234. [9] W. Reich, 1927; 1969. [10] W. Reich, 1969, S. 100. [11] Velde [1926], 1937. [12] A. a. O., S. 19. [13] A. a. O., S. 179. [14] A. a. O., S. 188. [15] Lowen [1965], 1980. [16] http://ws-international.tradoria-shop.de/p/314603401/dr-hittich-90-tabletten-dr-hittich-vital-g-max-potenz-potenzmittel-erektion-libido-potency (14.12.2010) [17] Masters / Johnson, 1967. [18] Kokott, 1980, S. 275 f. [20] Rösing et al., 2009, S. 821. [21] Haeberle, 1983. [22] Ebd., S. 281. [23] A. a. O., S. 348. [24] A. a. O., S. 379. [25] A. a. O., S. 375. [26] Führkötter (Hg.), 1968, S. 67. [27] A. a. O., S. 117. [28] Teresa von Avila, 1968, S. 206-214. [29] Stockham, 1896. [30] Ebd., S. 18. [31] A. a. O., S. 20. [32] Stockham, 1927, S. 10. [33] A. a. O., S. 15. [34] A. a. O., S. 16. [35] A. a. O., S. 17. [36] Sattler, 1999, S. 136.

Die Literaturverweise beziehen sich auf die Magic of Nature Bibliography:

http://gustavschott.wordpress.com/author/schott/