Johann Peter Frank (1745-1821): Über den Vorkämpfer der Öffentlichen Gesundheit und die Aktualität seines Werkes (2021)

Diesen Vortrag hielt ich am 26. Juni 2021 in Bruchsaal auf der 20. SWBC Jahrestagung „Von der ONKO Ambulanz zum NTC“

Zugleich als Festvortrag anlässlich des 250. Geburtstages und 200. Todestages von Johann Peter Frank.

25jährigs Bestehen des Freundeskreises zur Förderung des Krankenhauses Bruchsal

Rahmenthema: Vom System einer vollständigen „Medizinischen Polizei“ bis zum „Zertifizierten Brustzentrum“. Hier das vollständige Vortragsmanuskript, das in etwas gekürzter Fassung vorgetragen wurde.

Heinz Schott

Johann Peter Frank (1745-1821): Über den Vorkämpfer

der Öffentlichen Gesundheit und die Aktualität seines Werkes 1

Der 275. Geburtstag von Johann Peter Frank im letzten sowie sein 200. Todestag in diesem Jahr bieten gerade in Zeiten der Corona-Krise Gelegenheit, über den Umgang mit historischen Gegebenheiten nachzudenken. Dabei sind zwei fragwürdige Einstellungen zu beobachten. Die eine setzt Vergangenes mit Gegenwärtigem gleich, ohne es historisch zu relativieren. In dieser Sicht werden beispielsweise die Schrecken der Pest, des Schwarzen Todes, in die gegenwärtige Corona-Pandemie projiziert, was zwar im Hinblick auf die kollektiven Erinnerungsspuren, die das Massensterben hinterlassen hat, verständlich sein mag. Aber hinsichtlich der Übersterblichkeit kann man den Schwarzen Tod wohl kaum mit der Corona-Pandemie vergleichen. Die andere, entgegengesetzte Einstellung ignoriert oder verdrängt weitgehend historische Reflexionen. Sie ist in der modernen Biomedizin vorherrschend und entspricht einer superspezialisierten Verengung des Gesichtsfelds auf Molekularmedizin und Biostatik, eingebettet in die elektronische Big-Data-Welt. Der Virologe, Epidemiologe oder Immunologe ist als Superspezialist in seiner wissenschaftlichen Disziplin zuhause. Aber wo bleibt die restliche Welt: der Mensch als psychosomatisches Wesen, die Gesellschaft als sozialpsychologisch funktionierender Organismus, ja, der Kosmos, in dem das Sonnesystem mitsamt der Erde einem Feinstaubteilchen gleicht?

Wenn ich mich Johann Peter Frank zuwende, so möchte ich ihn weder als Helden glorifizieren, der all das schon angebahnt hat, was die wissenschaftliche Grundlage der Öffentlichen Gesundheit von heute ausmacht, noch ihn in eine historische Schublade (»Medizin der Aufklärung«) stecken, deren Inhalt zwar interessant, aber für uns allenfalls nur musealen Wert haben kann, da die damalige Medizin ja Bakterien, Viren und andere Mikroben absolut nicht fassen konnte und die Zellbiologie noch unbekannt war, ganz zu schweigen von der Molekularen Medizin im Zeitalter der Informationstechnologie. Wenn ich Ihnen nun sein Werk vorstelle, soll es sowohl im Kontext seiner Zeit besser verstanden werden, als auch Anregungen, Denkanstöße für die Gegenwart liefern.

(1) Zur Biografie

Johann Peter Frank lebte in einer Epoche des radikalen Umbruchs um 1800, in der Medizin und Gesundheitswesen eine staatstragende Rolle zu spielen begannen. Dabei waren für die Medizin im Zeichen der Aufklärung besonders zwei Impulse wichtig: Zum einen die von Rousseau initiierte Forderung nach einer naturgemäßen Erziehung (»Bildung«) des Menschen zur Erlangung einer besseren Gesellschaft, zum anderen die revolutionäre Idee einer Befreiung und Emanzipation der Bürger, deren politisches Epizentrum die Französische Revolution von 1789 darstellte. Johann Peter Frank entfaltete seine Wirkung vor allem in der Habsburgermonarchie unter Kaiser Joseph II., dem Musterland des aufgeklärten Absolutismus. Hier hatte die Obrigkeit – gewiss nicht uneigennützig – großes Interesse an der Gesundheit seiner Untertanen – eine Voraussetzung für das Wohl des Staates. So nahm die »Medikalisierung der Gesellschaft«, wie das Schlagwort der Medizinhistoriker lautet, seinen Lauf (an deren Ende wir heute keineswegs angelangt sind, wie etwa die staatlichen Maßnahmen in der Corona-Krise zeigen). Die moderne Sozialmedizin wurde damals geboren. Und einer ihrer wirkmächtigsten Promotoren war Johann Peter Frank, der mit seinem sechsbändigen Werk System einer vollständigen medicinischen Polizey (1779–1819) gleichsam die Bibel der sogenannten »Staatsarzneykunde« verfasste, was wir heute als Öffentliche Gesundheit oder Public Health bezeichnen würden.2

Er wurde 1845 im pfälzischen Rodalben geboren, das damals zur Markgrafschaft Baden gehörte – übrigens nicht weit von meinem eigenen Geburtsort Bergzabern – und starb 1821 in Wien. Wir können hier seinen wechselreichen Lebensweg nur bruchstückhaft skizzieren.3 Dieser führte ihn nach seiner ärztlichen Ausbildung in Straßburg und Heidelberg als Medizinprofessor und Medizinalreformer über Pavia in der österreichischen Lombardei nach Wien (Allgemeine Krankenhaus) und später dann nach Vilnius in Litauen (damals unter russischer Herrschaft) und schließlich nach St. Petersburg, wohin er als Leibarzt von Zar Alexander I. berufen wurde. Wir wollen hier jenen Lebensabschnitt näher beleuchten, der sein Wirken in Baden betrifft. Er begann mit seiner ärztlichen Praxis in Bitsch (Lothringen). Nach seiner Promotion 1766 heiratete er im darauffolgenden Jahr. Am 2. Januar 1768 wurde Franks erster Sohn geboren, zwei Tage später starb seine Frau an Kindbettfieber. Ein halbes Jahr später starb auch der Sohn an »Blattern« (Pocken). Diese beiden Schicksalsschläge verweisen auf die besonders prekäre Gesundheitsproblematik der damaligen Zeit: nämlich hohe Müttersterblichkeit neben hoher Kindersterblichkeit sowie lebensbedrohliche Seuchen, wovon die »Blattern« nur eine von vielen war. Im selben Jahr 1768 erhielt Frank neben anderen Ärzten den Regierungsauftrag, einen lokalen Ausbruch von Fleckfieber in Gernsbach zu untersuchen und Maßnahmen zu seiner Bekämpfung vorzuschlagen. Er plädierte anstelle von reinigenden (purgierenden) Heilmethoden wie Aderlass, die Erkrankte zusätzlich schwächten, stimulierende Mittel wie Alkohol und Schwitzkuren anzuwenden.4 1765 wurde er vom Markgrafen zum Hofmedicus in Rastatt ernannt.

1770 heiratete er Marianne Wittlinsbach, eine Tochter des Oberamtsschreibers von Rastatt, mit der er zwei Söhne – darunter den späteren Medizinprofessor Joseph Frank (1771-1842) – und eine Tochter hatte. Vermutlich auch aufgrund seiner eigenen leidvollen Erfahrung entwickelte er für die Markgrafschaft Baden einen Ausbildungsplan für Hebammen und Wundärzte, für die bisher überhaupt keine Ausbildung vorgesehen war. 1772 wurde er als Vorsteher des Hebammenwesens angestellt und vom Fürstbischof in Speyer als Hofrat zum Stadt- und Landphysikus in Bruchsal berufen. Zugleich wurde er zum Arzt – Betriebsarzt würden wir heute sagen – für die Salzsiederei in Bruchsaal bestellt. Zudem wurde er zum Direktor von zwei Spitälern in Bruchsal und Deidesheim ernannt. In Bruchsal lehrte er den praktischen Teil der »Zergliederungskunst« (Anatomie) sowie Botanik, wozu er mit den Wundärzten Exkursionen veranstaltete und einen botanischen Garten anlegte. Er begann auch, in Bruchsal ein pathologisches Museum einzurichten. Er hielt den Unterricht am Krankenbett, heute als Bedside Teaching bezeichnet, für sehr wichtig – eine Innovation in der Medizin der Aufklärung. In den zwölf Jahren seiner Tätigkeit in Bruchsaal legte er den Grundstock für sein epochales Werk, hier entstanden die ersten drei von insgesamt sechs Bände seines Systems einer vollständigen medicinischen Polizey, die er beim »kuhrfürstlichen Hofbuchhändler« Schwan in Mannheim publizierte. Auf den Inhalt seines Werks kommen wir gleich zurück.

Mit einer kurzen Zwischenstation in Göttingen wurde er 1785 als Medizinprofessor und Nachfolger des renommierten Samuel-Auguste Tissot nach Pavia (österreichische Lombardei) berufen. Hier hielt er seine berühmte Akademische Rede vom Volkselend als der Mutter der Krankheiten5, in der er seine sozialmedinisches Credo verkündete. Als Generaldirektor des lombardischen Medizinalwesens war er für die Medizinalreform im Geiste des Aufklärung verantwortlich. Zehn Jahre später, also 1795, setzte er sich als Direktor des Allgemeinen Krankenhauses in Wien für eine Reform der ärztlichen Ausbildung ein, wurde aber unter dem restaurativ eingestellten Regime von Kaiser Franz II. (Regierungszeit 1792-1806) sozusagen ausgebremst. Auch seine entsprechenden Reformversuche im russischen Zarenreich in Wilna und St. Petersburg zwischen 1804 und 1808 waren nicht von Erfolg gekrönt.6

(2) »Medicinische Polizey«: Ein Aufriss

Im Folgenden möchte ich versuchen, Ihnen in einem knappen Aufriss das Gesamtwerk der »Medicinischen Polizey« vorzustellen, das zwischen 1779 und 1819, also einem Zeitraum von 40 Jahren, veröffentlicht wurde. Frank beginnt mit den »menschlichen Zeugungstrieben […] in Rücksicht auf das allgemein Gesundheitswohl«. Das Sexualleben wird somit als eine wichtige gesundheitspolitische Herausforderung begriffen. Er argumentiert hier auf der Basis der tradierten Viersäfte-Lehre (Humoralpathologie), wobei Gesundheit mit einer Harmonie der Säfte erklärt wird und eine Stockung oder übermäßige Ansammlung der Säfte ebenso krankmacht wie deren Verschwendung oder Vergiftung. Das gilt insbesondere für die Samenflüssigkeit. Daraus ergibt sich, typisch für die Medizin der Aufklärung, die Forderung nach einem geordneten, mittelmäßigen Sexualleben, die skeptische Einstellung gegenüber dem Zölibat, die Pflege eines zufriedenstellenden Ehelebens, in dem gesunder Nachwuchs gezeugt wird, seine Mahnung zu der »nöthigen Obsorge für die Erhaltung schwangerer Mütter, und ihrer Leibesfrüchte« und vor allem »zu der in jedem Gemeinwesen nöthigen Fürsorge für Gebährende und Wöchnerinnen«.7 Frank fordert dies in einer Zeit, als die Geburtshilfe als medizinisches Lehrfach noch in Anfängen steckte und von Frauen- und Kinderheilkunde oder gar Neonatologie noch keine Rede sein konnte.

Auch im zweiten Band der »Medicinischen Polizey« (erschienen 1780) setzt sich Frank mit der ersten Lebensphase des Menschen von der Zeugung bis zum Erwachsenwerden auseinander. Auch hier gilt seine besondere Aufmerksamkeit den Schwangeren. Auch wenn man die »Hurerei« für »die erste Pest in jedem Staate« halten müsse, so fordert er im selben Atemzug »Mitleid und Gerechtigkeit gegen das verführte Geschlecht und seine unglückseeligen Früchte« und prangert die »Quelle des Kindsmords« an.8 Er tritt für die »Würde der auch unehelichen Schangerschaft« ein. Ob ledige oder verheiratete Schwangere: »bede tragen sie einen Bürger unter ihrem Herzen, und ein göttliches Geschöpfe«. So plädiert er für einen menschlichen Umgang mit den betroffenen Frauen im Kampf gegen Abtreibung und Kindsmord. Seine Richtschnur ist die Wahrung der Würde der Frau durch Milde und Fürsorge, um das Leben des werdenden oder geborenen Kindes zu erhalten. »Es muß für die Ehre solcher Personen, wenn es auch nur in Rücksicht auf ihre Leibesfrucht geschähe, so viel als thunlich ist, gesorget und ihnen die Gelegenheit verschaft werden, mit dem geringsten Aufsehen in der Republick, ihre Frucht zu gebähren.«9

Frank stellt ausführlich die Faktoren dar, die auf die »physische Erziehung« der Kinder, ihre »gute Leibesbeschaffenheit« einen Einfluss haben und andererseits auf die »Fehler der gemeinen Erziehungsart«, die eine »gesunde Bildung« hemmen. Hier wird ein reiches Panoptikum von alltäglichen Maßnahmen und Gefahren entworfen. So warnt er etwa vor der »Gefahr der Taufe mit kaltem Wasser«10 oder weist auf den »Nachtheil des allgemeinen zu heftigen Kinderwickelns auf ihre Bildung« hin.11 Sehr interessant sind auch Franks Bemerkungen zum »Nachtheil des Zusammenschlafens von Kindern und alten Leuten«, offenbar eine verbreitete Sitte. Die Gefahr bestünde, so Frank, dass kleinere Kinder neben Erwachsenen im Bette erdrückt werden könnten. Zudem: Vom frischen jugendlichen Organismus würde Lebenskraft ausströmen: »Die Ausdünstung junger Menschen« sei »im höchsten Grad electrisch«.12 Solche kraftvolle Ausdünstung würde von einem ausgedörrten älteren Organismus aufgesogen, so dass der junge geschwächt und aufgezehrt werde. Eine »Art von natürlicher Transfusion« würde dem »entschöpften Alten […] neuen Balsam in seine Aderen flössen«, wäh2) rend dem »jungen Geschöpfe« der üble »ansteckende Dunst« des Alten eingepropft würde.13 (Ein anderer zeitgenössicher Autor bezeichnete dies als »Od-Vampirismus«). Demgegenüber tritt die Bedeutung der »Unzucht«, also sexueller Handlungen bzw. sexuellen Missrauchs zwischen den Bettgenossen in den Hintergrund. Frank verweist u. a. auf das einschlägige »vaterländisches Gesetz« für die Badischen Lande von 1752 bezüglich des Zusammenschlafens, was sogar Zuchthausstrafe vorsah.14

Ausführlich begründet er die »mütterliche Pflicht des Stillens«: »Die natürlichste Nahrung der Kinder ist die Mutter-Milch.«15 Aber auch für die Gesundheit der Mutter sei das Selbststillen von größter Bedeutung. Zurückgehaltene Milch könne sich nämlich in ganz unterschiedlichen Organen niederschlagen und zu schlimmsten Krankheiten, ja mitunter zum Tode führen.16 Er kritisiert die »faulen Mütter« insbesondere unter den Reichen, die auch diese Gelegenheit nutzten, »eine Bürde mehr abzuschütteln«.17 Zugleich betont Frank die Notwendigkeit eines »Ammenwesens [..:] für die erste Verpflegung mutterlos zu erziehender Kinder«. Wir sehen an diesem Beispiel, wie – typisch für die Medizin der Aufklärung – physisch-biologische und moralisch-pädagogische Argumente miteinander verquickt werden. Ebenso typisch ist die philanthropische Fürsorge für die Armen und Elenden, mit der sozusagen die christliche Barmherzigkeit in ein staatliches Regelwerk überführt wird. So plädiert Frank vehement für den Ausbau von Findel- und Waisenhäusern. Es gehe nicht darum, »grausam und unüberlegt, mit Feuer und Schwert« das Laster zu verfolgen, sondern vielmehr darum, »wie das Leben der Ausgesetzten zu retten seye, ohne jenes der aussetzenden Mütter in Gefahr zu bringen.«18 Abschließend geht es noch um die »Gesundheitspflege der lernenden Jugend« und »Polizey-Aufsicht bei Erziehungsanstalten«, was wir heute wohl als Sozialpädiatrie und Schulhygiene bezeichnen würden.

Der dritter Band (erschienen 1783) behandelt eine ganz andere Sphäre der Öffentlichen Gesundheitheit: Er thematisiert die gesunde Ernährung und kritisiert die »Unmäßigkeit im Essen und Trinken«, schildert gesunde Kleidung und gesunde Wohnungen und problematisiert die »öffentlichen Reinlichkeitsanstalten in Städten und übrigen Wohnungen« [heute hochaktuell]. Frank will hier hygienische Standards festschreiben, die von der »medicinischen Polizey«, das heißt von den Gesundheitsbehörden, Amtsärzten usw. zu propagieren und zu überwachen sind. Gerade hier zeigt sich der Charakter der Aufklärung: Alle Maßnahmen sind wissenschaftlich zu begründen, konsequent zu etablieren (z. B. beim Brunnenbau für die Trinkwasserversorgung) und unmittelbar mit pädgogischen Kampagnen für eine gesunde Lebensführung zu verknüpfen. An den Anfang des Abschnitts über die Getränke steht das umfangreiche Kapitel »Von der Pflege des Trinkwassers und der Brunnen«. Es beginnt mit dem zu allen Zeiten gültigen Satz: »Die Menschen verkennen, so wie in allen andern Dingen geschieht, wenn sie sich in vollem Besitze davon sehen, auch den Werth des guten Wassers.«19 Die Ärzte sollen für die Trinkwasserversorung die Brunnen und Quellen überprüfen (»gute Brunnen-Polizey«)20. Im einzelnen schildert Frank die Eigenschaften des guten Wassers im Unterschied zum schlechtem und analysiert die verschiedenen Arten (u. a. Fluss- und Regenwasser). Er entwirft eine detaillierte Ordnung zur Erzielung der Reinlichkeit im öffentlichen wie privaten Raum, insbesondere im Hinblick auf die »Abtritte« (zu Lebzeiten Franks gab es kein WC) und die Abwasserproblematik und antizipiert somit die Assanierung der Städte, die erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert stattfand.

Im vierten Band (erschienen 1788) – er befindet sich da schon in Pavia – behandelt Frank umfassend die »öffentliche Sicherheit« im Gesundheitswesen, die der Staat zu gewährleisten hat. Zunächst geht es um Verletzungen aller Art: durch Unfälle oder leichtsinnige Handlungen, durch »Wasser- und Feuer-Gefahren«, Verletzungen durch »Nachtwanderer« (»Schlafwandler«) und »Wahnsinnige« (»Wahnwitzige«)21, durch Naturkatastrophen wie Gewitter und Erdbeben oder durch wilde bzw. »wüthige Thiere« (Tollwut). Weiterhin geht es aber auch um »die vorsätzlichen Verletzungen der öffentlichen Ordnung überhaupt«, insbesondere um Morde aller Art einschließlich dem Selbstmord sowie um Schädigungen durch diverse Methoden der Scharlatanerie und ihrer »Wunderkuren«. Hier beschreibt er also das Aufgabenfeld der späteren Rechtsmedizin (Gerichtlichen Medizin), wobei er im Zweifelsfall die Obduktion der Leichen einfordert, gerade auch beim Selbstmord, um einen Mord auszuschließen.22 Schließlich prangert er die »Mißhandlung von sterbenden Menschen« an und entwirft so etwas wie ethische Leitlinien, die an Grundsätze der heutigen Palliativmedizin und Sterbebegleitung erinnern. Der »Gefahr, lebendig begraben zu werden«, widmet er einen eigenen Abschnitt zur »Rettung der Scheintoten« – einer seinerzeit sehr realen Gefahr, da Leichenschau und Bestattungswesen noch kaum entwickelt waren. Dieses Thema greift er noch einmal in großer Ausführlichkeit im fünften Band (erschienen 1813) auf, insbesondere setzt er sich mit dem »Scheintod« auseinander, einer seinerzeit offenbar brandaktuellen Fragestellung. (Die Grenzen zwischen Ohnmacht und Scheintod scheinen damals zu verschwimmen, denken Sie an Heinrich von Kleists Erzählung »Die Marquise von O…« von 1808).

Im sechsten und letzten Band der »Medicinischen Polizey« (in drei Teilbänden 1817 bzw. 1819 erschienen) entfaltet Frank noch einmal ausführlich seine Einsichten über die Bedeutung der Staatsarzneikunde für das Gemeinwohl. Diesmal aber widmet er sich aufgrund seiner langen Erfahrungen als reformerischer Hochschullehrer der ärztlicen Ausbildung und nimmt die »medicinischen Lehranstalten« in den Blick. Er entwirft eine umfassende Studienordnung (wir würden von einem Reformstudiengang sprechen), in der die jeweils zu erbringenden Leistungen der Medizinprofessoren und Studenten genau definiert werden. In diesem detaillierten Kurrikulum werden die einzelnen Lehrfächer »durchdekliniert«, von der Physiologie und Anatomie bis hin zur Chirurgie und Geburtshilfe. Er tritt vehement für die Förderung der »Vieharzneykunde« (»Viehheilkunde«) ein, die wissenschaftlich von akademischen Ärzten zu leiten sei. Schließlich entwirft er noch eine ausführliche Prüfungsordnung für die »Heilkünstler«.

(3) »Medizin der Aufklärung«: ein schillernder Begriff

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs , wie gesagt, der staaalich geregelte Zugriff der Medizin auf alle Lebensbereiche, die »Medikalisierung der GeselIschaft« schritt voran, wobei Medizin (»Physik«) und Moral untrennbar miteinander verzahnt waren. Dies sei am Beispiel des ärztlichen Umgang mit der Sexualität aufgezeigt. Man glaubte, die Sexualmoral biologisch, aus physiologischen Gesetzmäßigkeiten, zwingend ableiten zu können. Dies wird vor allem bei der damals ausufernden Onaniedebatte deutlich. Die »Selbstbefleckung«, vor allem beim männlichen Kind und Heranwachsenden, wurde als die größte Gesundheitsgefahr in den schlimmsten Schreckensbildern ausgemalt. Die aufgeklärten Ärzte argumentierten physiologisch im Sinne der Humaralpthologie: Der Verlust von Samenflüssigkeit – d. h. Schleim (griech. »phlegma«), in traditioneller Sicht im Gehirn gebildet – würde zu einer »Rückenmarksdarre« und damit zu den allerschlimmsten somatischen und psychischen Krankheiten führen, bis hin zum »Selbstmord«.23 Die Onanie wurde zu einer Todsünde wider die Natur erklärt. Diese ideologische Unterdrückung der Sexualität ging hier also nicht primär von katholischen Priestern, sondern von Ärzten aus, die sich explizit der Aufklärung verschrieben hatten. Übrigens war Tissot, Franks Vorgänger in Pavia, in dieser europaweiten Onanie-Debatte tonangebend. Er hatte bereits 1760 eine in viele Sprachen übersetzte Kampfschrift gegen »onanisme« bzw. »Selbstbefleckung« verfasst. Ganz in dessen Sinne formulierte Frank: »Das onanistische Laster ist in manchen Kollegien, Erziehungshäusern und Schulen vieler Gegenden, besonders in großen Städten so eingerissen und die Folgen dieses Verbrechens sind so erschröcklich, daß man von Seiten der Obrigkeit nicht genug Mittel treffen kann, einer solchen Pest überall zu begegnen. Ich weiß Schulen, wo bis zu 40 Knaben bei Handlungen angetroffen wurden, welche wegen ihren Folgen das gemeine Wesen sollten zittern machen.«24

Als Allheilmittel erscheint die strikte Anwendung pädagogischer Mittel, um die Untergebenen bis ins Letzte zu beaufsichtigen und zu unterweisen, um eine möglichst vollkommene Kontrolle ausüben zu können – angeblich aus rein medizinischen und fürsorglichen Motiven. Es ging den Ärzten in ihrem Selbstverständnis keineswegs um Willkür, sondern um die rational-logische Anwendung vernünftiger Prinzipien im Einklang mit den vermeintlichen Naturgesetzen. Und dementsprechend führt Frank seine Überlegungen zur Onanie weiter aus: »Was die Vorkehre gegen dieses Laster im offentlichen [sic] Schulen betrift [sic]: so müssen die Tische und Bänke, den Augen der Lehrer nichts verbergen können. Ich habe daher nie die, sonst für den Jüngling schicklich, Tracht der Mäntel in den lateinischen Schulen, da unter solchen Decken die Knaben manchen Unfug treiben und den Augen des Lehrers verbergen mögen, billigen können, und ich glaube, daß es besser wäre, dieselben in den Schulen immer ablegen zu lassen. […] Ueberhaupt sollten die Lehrer ohne Unterlaß ein wachsames Auge auf ihre Untergebene heften«.25 Schließlich ging es im damaligen Verständnis um deren Leben und Tod.

Das Konzept der »Medicinischen Polizey« oder »Staatsarzneykunde« entsprach dem aufgeklärten Zeitgeist in der Medizin um 1800. Mustergültig begegnen wir diesem in der Programmschrift »Makrobiotik oder Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern« (Erstauflage 1796) von Christoph Wilhelm Hufeland. Dieser hatte mehr oder weniger alle Bereiche menschlicher Lebensformen im Hinblick darauf untersucht, ob sie schädlich sind und das Leben vekürzen oder gesundheitlich nützlich und das Leben verlängern. Allerdings konnte kein anderer medizinischer Autor, auch Hufeland nicht, mit der umfassenden Gründlichkeit eines Johann Peter Frank konkurrieren.

Ähnlich wie bei Hufeland spielen auch bei Frank die Wohn- und Umweltverhältnisse eine wichtige Rolle, gerade im Hinblick auf Licht und Luft. In seiner bereits erwähnten Akademischen Rede vom Volkselend als der Mutter aller Krankheiten geht er u. a. auf Epidemien ein, was an gegenwärtige Herausforderungen erinnert: „So entsteht fast eine jede epidemische oder ansteckende Krankheit bei der ärmeren Klasse der Bevölkerung, herrscht dort am meisten und wird erst später ausgetilgt. Ja, sogar eine leichtere gesundheitliche Beeinträchtigung, eingeschlossen in einem engen Raum, entwickelt sich bald, besonders im Winter, wenn die Leute zugleich mit der Kälte auch jeden Anhauch frischer Luft fernzuhalten trachten, zu einer tödlichen, dem Kerker- und Hospitalfieber ähnlichen Krankheit [u. a. Typhus und Wundinfektionen] und verbreitet sich unter den Verwandten und Freunden, die durch das Elend erschöpft und so dazu aufnahmsbereit sind.“26

(4) Exkurs: Franks Einstellung zu Juden

Wie sah Johann Peter Franks Menschenbild aus? Können wir ihn als einen aufgeklärten Philanthropen bezeichnen? Seine ärztliche Einstellung zum Judentum ist hier aufschlussreich. Erst in der Aufklärung und unter dem Vorzeichen der Französischen Revolution und Napoleons »Code Civil« (1804) konnte das Ziel der Judenemanzipation formuliert werden. Vorher gab es keine Lösungsvorschläge der Medizin, nichtjüdische Ärzte beschimpften allenfalls ihre jüdischen Konkurrenten als Betrüger, Scharlatane, Halsabschneider, ohne durchschlagenden Erfolg.27 Dies änderte sich nun schlagartig: Wie andersartig, unglücklich, ja abartig die Juden auch in ihrem negativen Image erscheinen mochten, so sehr hielt man ihre glückliche Anpassung und Integration durch pädagogische und sozialmedizinische Maßnahmen für möglich. So kritisierte Johann Peter Frank, daß man das jüdische Volk „theils wegen seiner ursprünglichen Unreinlichkeit, theils aus unmenschlichem Hasse“ in den ungesundesten Gegenden angesiedelt habe. Die „Macht fauler Ausdünstungen“ vergrößere sich so, wenn dort die „unreinsten Menschen“ versammelt seien: „Entweder hätte also die Polizei sich des unreinen, unglücklichen Volkes mehr annehmen und demselben eine bessern Trieb zur Reinlichkeit beizubringen suchen sollen; oder sie hätte die Juden lieber, zu einzelnen Haushaltungen, unter christlichen Bürgern wohnen lassen mögen, um so immer das Auge auf sie zu haben, und jede Abweichung in der nöthigen Säuberlichkeit zu bestrafen.“28 Er strebt also die soziale Integration der Juden an. Sozialmedizinische Maßnahmen sollten sie vom Stigma der Unreinheit befreien. Im Kontext seiner Kritik der sanitären Mängel (»Abtritte« in den Wohnungen) lobt er übrigens ausdrücklich die Reinigungsrituale in der jüdischen Tradition.29 Eine solche Perspektive ist frei von jenem Antisemitismus, wie er etwa 100 Jahre später im Kontext der Rassenbiologie zur ideologischen Herrschaft gelangte, wo es später unter den Bedingungen des totalen Kriegs nicht um die Integration der Juden, sondern um ihre physische Vernichtung gehen sollte.

(5) Schlussbetrachtung

Inwiefern können wir heute Frank als »Vorkämpfer der Öffentlichen Gesundheit« feiern und von seiner Aktualität sprechen? Er war ein Repräsentant der Medizin der Aufklärung im Rahmen eines absolutistischen Staatswesens. Aus heutiger Sicht sollten wir die dunkle Kehrseite der Aufklärung und der von ihr angestoßenen Umwälzungen nicht ignorieren, was gemeinhin als »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno) bezeichnet wird. Denn das Zurückdrängen kirchlicher Religiosität, die wissenschaftlich-technische Revolution, die umfassende staatliche Etablierung medizinischer und pädagogischer Einrichungen (Krankenhäsuer, Schulen usw.), das Freiheitsideal der Französischen Revolution haben eben nicht zur globalen Herrschaft von Vernunft, Wohlstand und Menschenliebe geführt, sondern neben allen Fortschritten und Verbesserungen der Lebensverhältnisse auch Militarismus, Totalitarismus und desaströse Kriege hervorgebracht, die bis heute ihre langen Schatten werfen. Die Erfolgsgeschichte der Aufklärung zeigt nicht zuletzt, wie Technik, Wissenschaft und insbesondere Medizin immer in Gefahr ist, von politischen Strömungen instrumentalisiert zu werden bzw. sich diesen anzudienen. Man denke an die medizinischen Leitwissenschaften Bakteriologie im ausgehenden 19. und Rassenbiologie im frühen 20. Jahrhundert.

Johann Peter Frank war weder der aufgeklärte Arzt, wie wir ihn uns für dass 21. Jahrhundert vorstellen würden, noch war er der reaktionäre, autoritäre Staatsmediziner, mit dem wir heute nichts mehr zu tun haben möchten. Allerdings war er ein Reformator des Gesundheitswesens, der dessen Bedeutung für die damalige Gesellschaft in vollem Umfang erkannte und es für das Gemeinwohl wie für das Wohl des Einzelnen nutzbar machen wollte. Sein Engagement erscheint uns auch heute noch vorbildhaft, und indem wir uns mit seinem Werk auseinandersetzen, können wir von ihm lernen und uns von seiner Mission anregen lassen.

Wie kaum ein anderer Autor seiner Zeit hat er die krankmachenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die Verelendung durch hygienische Missstände, die verderblichen Eingriffe in die natürliche Entwicklung des Menschen analysiert und bekämpft. Dabei erkannte (erlitt) er ein fundamentales medizinethisches Dilemma, das ja auch das Dilemma jeder Form von Pädagogik ist: Wieweit müssen die Ärzte die naturgemäße Entwicklung des Menschen, seine freie Entfaltung, fördern – und inwieweit müssen sie ihn zu einem gesunden Verhalten erziehen und wo nötig sogar zwingen? Das erinnert an ein Dilemma bei der Bekämpfung der gegenwärtigen Corona-Krise: Wieweit darf die vom Grundgesetz garantierte Freiheit zugunsten von Gesundheit und Sicherheit eingeschränkt werden? Welche Rolle spielen dabei Ärzte und medizinische Experten? Hören wir zum Abschluss Johann Peter Frank, was er (im Vorbericht zur zweiten Auflage seines ersten Bandes der Medicinischen Polizey) in Bruchsal am »Lorenzentag«, d. h. am 10. August 1783 in einer gewissen Ratlosigkeit schrieb:

»Es ist übrigens auffallend genug, daß man der medicinischen Polizey zuviele Einschränkung der bürgerlichen Freiheit und Begünstigungen der Gesetzgebenden, despotischen Macht zulastlege, und mit dem übel verstandenen Worte Freiheit fechte; – auf der anderen aber nicht einsieht, wie sehr ich mich dadurch, daß ich die Menschheit gegen so mancherley unbefugte Angrife unüberlegter Gesetze und gemeinschädlicher obschon geheiligter Gebräuche, zu vertheidigen gesucht habe, – der Gefahr ausgesetzt denken mochte, verschiedentlich selbst für einen Prediger allzugroßer Freiheit gehalten zu werden! … Wie soll man es endlich machen, um beeden Vorwürfen auszuweichen?«

Ich denke, dass kein Arzt und auch sonst niemand, der heute im Gesundheitswesen tätig ist, diesem Dilemma ausweichen kann, dem Johann Peter Frank mutig die Stirn geboten hat. Aus meiner Sicht offenbart sich in der Art, wie der diese Spannung zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gesellschaft ertragen und wie er als Arzt für die Wahrung der Menschenwürde gekämpft hat, die größte Aktualität für uns heute.

1Festvortrag im Rahmen der »Veranstaltung zum 25-jährigen Bestehen des Freundskreises zur Förderung des Krankenhauses Bruchsal e.V. aus Anlass des 275. Geburtstages von Dr. Johann Peter Frank« im Bruchsaler Bürgerzentrum am 26.06.2021.

2Johann Peter Frank: System einer vollständigen medicinischen Policey, 6 Bde. – Bde. 1-4: Mannheim 1779, 1780, 1783, 1788; Bd. 5: Tübingen 1813; Bd. 6: Wien 1817 (Theil 1 u. 2.) und 1819 (Theil 3) [= MP 1-6].

3Vgl. Rüdiger Haag: Johann Peter Frank (1745-1821) und seine Bedeutung für die öffentliche Gesundheit, Med. Diss. Universität des Saarlandes, Homburg/Saar 2009.

4Vgl. Haag (2009), S. 20.

5Johann Peter Frank: Akademische Rede vom Volkselend als der Mutter der Krankheiten (Pavia 1790), Eingel., ins Dt. übertr. u. mit Erkl. vers. von Erna Lesky, Leipzig 1960 (Sudhoffs Klassiker der Medizin; Bd. 34).

6Vgl. Eduard Seidler: Anfänge einer sozialen Medizin. Johann Perter Frank und sein »System einer vollständige medicinischen Policey, in: Meilensteine der Medizin, hg. von Heinz Schott, Dortmund 1996, S. 258-264, hier: S. 264.

7Siehe Inhaltverzeichnis von MP 1.

8MP 2, 1780, S. 5 f.

9A. a. O., S. 116.

10A. a. O., S. 215.

11A. a. O., S. 221.

12A. a. O., S. 253.

13A. a. O., S. 254.

14A. a. O., S. 259 f.

15A. a. O., S. 279.

16A. a. O., S. 303.

17A. a. O., S. 282.

18A. a. O., S. 444.

19MP 3, 1783, S. 353.

20A. a. O., S. 539.

21MP 4, 1788, S. 146.

22A. a. O., S. 505.

23MP 4, 1788, S. 504; Frank beruft sich hier auf Tissot.

24MP 2, 1780, S. 599.

25A. a. O., S. 600 f.

26Johann Peter Frank: Akademische Rede vom Volkselend als der Mutter aller Krankheiten (Pavia 1790), ins Deutsche übertragen von Erna Lesky. Leipzig 1960, S. 43.

27Kümmel, 1998.

28 MP 3, neue Aufl., 1804, S.878; MP 3, 1783, S. 959..

29MP 3, 1783, S. 969 f.