Der „innere Arzt“ – Historische Anmerkungen zum Menschenbild der Medizin (2018)

Diesen Vortrag hielt ich am 15. Dezember 2018 an der Evangelischen Akademie Tutzing auf dem 30. Medizin-Theologie-Symposium zum Rahmenthema

Wer heilt, hat recht? Zum Menschenbild im Gesundheitswesen.

Hier das Tagungsprogramm.

Hier meine PPT-Präsentation.

Zusatz vom 9.01.2019:

Heute hielt ich im „Café Lichtblick“ im Gemeindehaus der Auferstehungskirche in Bonn (Venusberg) einen Vortrag zum Thema

Der „innere Arzt“ —  zum Menschenbild der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart

Unbenannt 1-page-001.jpg

Die erste von 38 Folien

Die PPT-Präsentation des Tutzinger Vortrags (siehe oben) wurde überarbeitet und etwas  ergänzt, hier der Link zum Download. hier die PDF-Version der PPT-Datei.

Zur „Melancholie“ und aus der Antike stammenden Temperamentenlehre hier die PPT-Datei mit einer PDF-Version.

 

 

Das Lebensende zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge − eine historische Perspektive (Vortrag 2012)

Vortrag am 28.11.2012 in Brühl auf der Gründungsveranstaltung Palliativteam SAPV RheinErft

Siehe hierzu auch eine Anmerkung in meinem Magic Mirror Blog.

Ich freue mich sehr, auf Einladung von Frau Dr. Bitschnau-Lueg in diesem Rahmen sprechen zu dürfen − auch aus einem ganz persönlichen Grund. Oft sind Doktoranden aus meinem Blickfeld verschwunden, bevor sie ihre Doktorarbeit fertig gestellt haben, noch öfter aber nach Abschluss ihrer Promotion. So habe ich mich als so genannter Doktorvater sehr darüber gefreut, dass kürzlich eine alte Doktorandin mit neuem Doppelnamen zu meiner Überraschung wieder auftauchte. Astrid Lueg, wie sie damals hieß, hat nämlich 1995 bei mir mit einer ganz außerordentlichen Dissertation promoviert. Das Thema lautete: „’Wunderheilung’ − ‚Heilungswunder’. Untersuchungen zum Verständnis- und Bedeutungswandel komplexer Begriffe aus medizinischer Sicht, dargestellt an Quellen und Beispielen der Neuzeit“. [Exemplar vorzeigen] Die Doktorandin wagte sich hier auf ein faszinierendes Grenzgebiet vor, das wie kaum ein anderes auch für die Palliativmedizin von großer Bedeutung ist, nämlich das Grenzgebiet zwischen naturwissenschaftlicher Medizin und religiöser Heilkunde, Wissen und Glauben, dort, wo „die Grenze der Erfahrungswerte überschritten […] und Bereiche des Unerklärbaren erreicht“ werden.[2] Im konkreten Fall sei, so ist im Schlussteil der Dissertation zu lesen,  „die Koexistenz von Religion und Medizin in eine Kooperation, ein Zusammenwirken modifizierbar. Für Patient und Arzt bedeutet das keine Flucht nach hinten, keine absolute Abkehr von den Errungenschaften des medizinischen Fortschritts, sondern eine Verbindung zweier Heilungskonzepte. Denn es geht nicht allein darum, einen Ersatz zu finden oder „(Medizin-)Götter“ zu entweihen, sondern darum, sich auf gemeinsame Wege einzulassen.“

Das trifft nicht nur auf Wunderheilung oder Heilungswunder zu, sondern auch auf das Lebensende als Schlüsselbegriff der Palliativmedizin. Denn ebenso wenig wie ein Wunder können wir den Tod rein wissenschaftlich begreifen. Ich gliedere meine Ausführungen in fünf kurze Kapitel.

(1) Selbstbestimmung versus Fürsorge: eine ideologische Kontroverse

In der medizinischen Ethik gibt es seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert eine kontroverse Debatte über das richtige Verhältnis von Selbstbestimmung und Fürsorge im Hinblick auf den einzelnen Patienten.  Die maßgeblichen Schlagwörter, die den Gegensatz markieren sollen, lauten: Patientenautonomie versus Paternalismus, Wille versus Wohl des Patienten. Die Verfechter des Fürsorgegedankens führen gerne Bezug nehmend auf Hippokrates den Satz ins Feld: „Salus (non voluntas)aegroti suprema lex.[3] Das Wohl, nicht der Wille des Patienten sei das höchste Gebot. Insofern der Patient in seiner existenziellen Not alles andere als ein Kunde auf dem Warenmarkt darstellt, der Angebote vergleichend prüfen und das für ihn optimale Produkt frei und gelassen wählen kann, erscheint seine „Autonomie“ als eine schlechte Utopie. Denn tatsächlich ist er dringend auf Hilfe angewiesen, nicht zuletzt auf einen Arzt, dem er sich anvertrauen kann. Aber das kann nicht bedeuten, dass er seinen Leib, wie das in früheren Zeiten oft brutal der Fall war, bedingungslos dem Arzt überlassen soll. Aber eine strikte Patientenautonomie im Sinne eines gänzlich selbst bestimmten Kundenverhaltens wäre sicher ebenso unmenschlich, wie ein autoritärer Paternalismus, der das leidende Subjekt völlig aus seinem Kalkül ausblendet.

Doch was heißt Selbstbestimmung, wenn wir es mit einem Menschen in höchster Not zu tun haben? Ich denke hier nicht nur an einen onkologischen Schmerzpatienten, sondern auch an den so genannten „armen Kranken“, der am Rande des Existenzminimums dahinvegetiert. Soll er verhungern oder ohne Hilfe und Behandlung bleiben, nur weil er arm ist? Die Weltreligionen haben diese Frage in bemerkenswerter Einmütigkeit verneint. So hat das Christentum von Anfang an die Unterstützung Hilfsbedürftiger, Kranker und Verletzter – nach dem Vorbild des barmherzigen Samariters im Neuen Testament (Lk 10, 30-37) – als Akt der Nächstenliebe angemahnt. Die im christlichen Abendland sich entfaltende Armen- und Krankenfürsorge unter dem Vorzeichen von caritas (liebende Fürsorge) und misericordia (Barmherzigkeit) spielten dann durch die Jahrhunderte hindurch eine zentrale Rolle im sozialen Leben.

 

(2) Lebensende: Welches Menschen- und Todesbild ist maßgebend?

Der Begriff „Lebensende“ suggeriert eine Grenze, bis wohin das Leben reicht. Das Übertreten dieser Grenze bedeutet Tod. Und doch ist das Lebensende oder der Tod in der Kulturgeschichte bis heute ein vielfach unterminierter Begriff. Denken wir an die Lehre von der Seelenwanderung,  an die Vorstellung vom ewigen Leben, an die Annahme einer Schattenwelt, des Hades, oder auch an die Vorstellung, dass uns die Geister der Verstorbenen realiter begegnen und beeinflussen können, von der romantischen Idee des Schutzengels bis hin zu den Geisterbeschwörungen im Spiritismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Sigmund Freud wies in dem Artikel „Zeitgemässes über Krieg und Tod“ (1915) auf unsere widersprüchliche Haltung gegenüber dem Tod hin: Dieser komme uns „unableugbar und unvermeidlich“ vor; zugleich „pflegten wir uns aber zu benehmen, als ob es anders wäre.“[4] So könne man sagen: „Im Grund glaube niemand an seinen eigenen Tod oder, was dasselbe ist: Im Unbewußten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt.“ Hierzu darf ich eine kurze Anekdote einflechten. Nach dem Vortrag eines Theologen im Studium Universale der Universität Bonn stand ein älterer Arzt auf, und verkündete mit größtem Nachruck, dass mit dem Tod „alles aus“ sei, das sei doch völlig bewiesen, mit dem  Gehirn sterbe auch alles andere, wie Seele oder Geist. Ich meldete mich zu Wort und fragte den Kollegen: „Woher wissen Sie denn das so genau?“ „Das glaube ich eben“, war die spontane Antwort. „Dann bin ich beruhigt“, sagte ich und das Publikum musste lachen.

Die Geschichte der Todesbilder kann nur grob angedeutet werden. Sie ist für die Ethik fundamental. Der Tod als Sensenmann, der sich in den Totentanz der Gerippe einreiht, war bis zur Aufklärung ein religiös aufgeladenes Schreckensbild. Es wurde abgelöst durch die Ideologie vom Tod als natürlichem und unwiderruflichem Ende ohne irgendein Jenseits. Dieser Position entsprach das Idealbild vom „friedlichen Verlöschen“ analog einer Kerze, deren Flamme nicht gewaltsam ausgeblasen wird, sondern erlischt, wenn sie das Wachs aufgebraucht hat. Für die Romantiker dagegen war der Tod immer zugleich Beginn eines neuen Lebens, Rückkehr der Seele zu ihrem Ursprung etc. Wenn Sie die medizinethische Fachliteratur oder Lehrbücher durchsehen, fällt Ihnen auf, dass Stichwörter wie „Leben nach dem Tode“, „ewiges Leben“ oder „Seelenwanderung“ nicht vorkommen. Es scheint ein Tabu zu sein, hinter das biologische Todesverständnis und sein naturalistisches Idealbild vom Sterben als friedlichem Verlöschen zurückzugehen. Ich denke aber, dass Jahrtausende alte traditionelle Vorstellungen nicht aus unserem Seelenleben ein für allemal gelöscht sind, dass die tief in uns verwurzelte Phantasie von unserer Unsterblichkeit keineswegs gänzlich ausradiert ist, weder beim Todkranken in der Palliativmedizin, noch bei seinem anscheinend gesunden Betreuer und Helfer. Wie müsste ein Curriculum aussehen, in dem man lernt, diese zentrale existenzielle Frage, nämlich die nach Tod und Sterben, mit dem notwendigen philosophischen Ernst zu erörtern? Diese Bildungsaufgabe lässt sich wohl kaum in modularisierten Kursen mit standardisierten Prüfungsfragen erledigen.

 

(3) Sterbebegleitung und Palliativmedizin: Was heißt hier Ethik?

Wie werden heute Sterbebegleitung und Palliativmedizin in der medizinethischen Fachliteratur behandelt? Zunächst einmal als abprüfbarer Lehrstoff, der mit Hilfe von Definitionen, Merksätzen und Fallbeispielen möglichst plastisch dargestellt werden soll. So heißt es in einem Lehrbuch der Medizinethik im Kapitel „Sterben und Tod“ im Anschluss an zwei Fallbeispiele (eine 75jährige Frau mit massiver Hirnblutung und ein Frühchen mit schwerer Sepsis und Hypoxie): „Soll Frau Thomas nicht mehr ernährt werden und verhungern? Welche Vorgehensweise(n) ist (sind) bei Ferdinand sinnvoll. Dieses Kapitel soll Ihnen ethisches, rechtliches und historisches Wissen vermitteln, das hilft, mögliche Entscheidungswege hinsichtlich ihrer Prämissen und Konsequenzen für beide Fälle zu reflektieren.“[5] So weit, so gut. Aber was bedeutet dieses rein kognitive Wissen, das von außen vermittelt wird? Es gibt doch noch ein anderes Wissen in jedem einzelnen Studenten oder Arzt, das er aus seinen ureigenen Erfahrungen schöpft. Wo und wie kommt dieses Wissen zur Sprache? Wie kann es entfaltet, wirksam gemacht werden? Ich bezweifle, dass wir ethische Bildung primär auf dem Wege eines verinnerlichten Lehrkanons erwerben. Mindestes ebenso intensiv müssten wir die inneren Quellen im einzelnen Menschen wecken und zum Sprudeln bringen.      

In einem anderen Lehrbuch ist zu lesen: „Es handelt sich bei palliativen Maßnahmen […] um menschliche Begleitung eines natürlichen Sterbeprozesses mit dem Ziel einer möglichst optimalen Symptomlinderung, die den gesamten bio-psycho-sozialen Bereich umfasst.“[6] Was kann man gegen diese wohlfeile Definition einwenden? Vielleicht gerade das, was solche Definitionen nicht leisten können und möglicherweise sogar verhindern: nämlich kritisch zu fragen, was „menschlich“ und was „natürlich“ ist, und was der „gesamte bio-psycho-soziale Bereich“ im Hinblick auf die Begriffe „Leben“ (bio), „Seele“ (psycho) und Gesellschaft (sozial) überhaupt heißen soll. Doch gerade die so genannte Sterbebegleitung, ein in der Medizinethik fest etablierter Begriff, konfrontiert den Sterbebegleiter mit einem unausweichlichen Dilemma, das sich dem curricular abprüfbaren Lehrstoff entzieht: Er kann den Sterbenden nicht wirklich begleiten, es sei denn, er würde mit ihm gemeinsam in den Tod gehen. So bleibt er immer noch der Anwalt der diesseitigen Welt, deren Logik er vertritt und vertreten muss, sofern er in dieser Welt handlungsfähig bleiben will.[7] Es gibt kaum eine treffendere Darstellung dieses Problems als Goethes Gedicht „Der Erlkönig“:

„Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?

Siehst Vater, du den Erlkönig nicht?

Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif?

Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif! −“

   

(4) Was bedeutet „Fürsorge“ in historischer Perspektive?

Kommen wir noch einmal auf die religiösen Quellen der Humanität zurück. Die von der Klosterregel des Benedikt  von Nursia (6. Jh.) inspirierte Einrichtung von Hospitälern diente weniger einer medizinischen Spezialbehandlung als vielmehr der Krankenpflege, die als Akt der christlichen Wohltätigkeit verstanden wurde. Die Barmherzigkeit galt als eine Haupttugend und wurde gemäß dem Bibelwort  „Was ihr getan habt einem von meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,  34-46) in sieben Werken gesehen: Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen und Tote bestatten. Diese religiösen Wurzeln der Armen- und Krankenpflege haben nachhaltige Spuren im säkularisierten Gesundheitswesen der Neuzeit  hinterlassen und sie wirken trotz Technokratie und Ökonomisierung heute noch im kollektiven Bewusstsein nach. 

Die unheilvolle Allianz von Krankheit und Armut ist heute – nicht nur im globalen Maßstab – so aktuell wie eh und je. In den Jahrzehnten des Wirtschaftwunders und Wohlstands nach dem Zweiten Weltkrieg war das Thema „Armut“ allenfalls eines der Erinnerung an „schlechte Zeiten“. Bis vor wenigen Jahren wurde von der Politik abgestritten, dass es Armut („Prekariat“) in unserer Gesellschaft überhaupt geben würde. Als besonderes Problem der Zukunft rückt immer mehr die Altersarmut und damit auch die Frage, wie der kranke alte Mensch versorgt werden kann, in den Blickpunkt der Sozialpolitik. Die Problematik der Altenpflege wird immer drängender: Wenn kein Vermögen existiert, wie können dann pflegebedürftige Menschen unter menschwürdigen Verhältnissen versorgt werden? Für wohlhabende Alte stehen sicher angenehme Seniorenheime zur Verfügung, wie sieht es aber mit den weniger gut betuchten aus? Ich erinnere mich an das Leben in dem kleinen Dorf vor 50 Jahren, in dem ich aufgewachsen bin und wo mein Vater als praktischer Arzt tätig war. Dort gab es weder einer Kindergarten, geschweige denn eine Kita, noch ein Altenheim. In der Regel wohnten mehrere Generation einer Familie unter einem Dach und es war ganz normal, dass die Pflege von kranken, pflegebedürftigen und auch dementen Angehörigen von der Familie zu leisten war. Die Situation war geprägt von beengten Wohnverhältnissen, knappen Geldmitteln, großer physischer und psychischer Belastung − und doch packten diese Dorfmenschen mit selbstverständlicher Tatkraft und Kooperationsbereitschaft die alltäglichen Aufgaben an. 

Palliativmedizin war seinerzeit noch ein Fremdwort. Schwerstkranke und sterbende Patienten, denen im nahe gelegenen Kreiskrankenhaus nicht geholfen werden konnte, kehrten in ihre Häuser und Familien zurück, so dass die Menschen in der Mehrzahl zu Hause starben. Die Totenglocke verkündete dann dem Dorf dieses Ereignis. Der praktische Arzt war Palliativmediziner, Sterbebegleiter, Seelsorger und Familientherapeut in einer Person, ohne nach unseren Kriterien je dafür ausgebildet worden zu sein. Im Kern könnte man Ähnliches auch von den pflegenden Familienangehörigen sagen. Ich möchte diese Situation weder idealisieren noch herabsetzen. Aber die heutige Situation markiert eher das andere Extrem: Vereinzelung des Patienten, Spezialdienste mit professionellen Helfern, die modularisierte Hilfspakete verabreichen, Sterben im Krankenhaus.         

 

(5) Resümierende Gedanken

Was ist hier von Seiten der Palliativmedizin und Gesundheitsforschung besonders zu beachten? Es gibt sicher verschiedene Ansätze der Forschung und des praktischen Handelns. Einer erscheint mir besonders wichtig, nämlich die Biographie des Patienten in der Palliativmedizin genauer in den Blick zu nehmen und zu berücksichtigen: Seine Familiengeschichte, sein beruflicher Werdegang, seine Krankengeschichte, seine Lebens- und Wohnsituation usw. In unserer digitalisierten Welt neigt die Forschung auch und gerade im Gesundheitswesen dazu, möglichst viele Daten zu erheben, miteinander zu verrechnen und nach Möglichkeit Leistungskurven zu kreieren. Wenn wir aber die Biographie eines Menschen als einmalig begreifen, kommt es nicht so sehr auf ein standardisiertes Abfragen mit anschließend statistischer Auswertung an, als vielmehr auf ein offenes Zuhören und empathisches Wahrnehmen: Was kann uns der Patient erzählen? Welche Sinnzusammenhänge sind für ihn wichtig, welche Weltanschauung, welches Selbstbild hat er? Was passiert, wenn er sich nicht mehr äußern kann? Eine weitere, auch wissenschaftliche Frage wäre, wie solche Mitteilungen auf den Arzt und Helfer wirken, was sie in ihm auslösen, wie sie ihn beeinflussen. Von besonderer Bedeutung wäre natürlich die weitergehende therapeutische Frage, welche Dynamik in einem solchen offenen Gespräch, aber auch mit einer stummen Zuwendung, freigesetzt werden, inwieweit sie dem Patienten bzw. seinen angehörigen Kraft und Mut geben kann. (Als Teilnehmer von Ethischen Konsilen bin ich immer wieder überrascht, welche großartige Kraft von einem existenziell berührenden Gespräch für alle Beteiligten ausgehen, wie plötzlich ein Gruppengeist wohltuend wirken kann.)    

Die große Kunst der Palliativmedizin liegt in meinen Augen darin, im Umgang mit dem Patienten (und seinen Angehörigen) die wissenschaftliche Dogmatik hinter sich zu lassen, sie gewissermaßen zu vergessen, um Neues zu entdecken − im Sinne einer demütigen „docta ignorantia“. Denn Modellvorstellungen, von der mittelalterlichen Sterbekunst (Ars moriendi) bis hin zum thanatopsychologischen Modell der fünf Sterbephasen nach Kübler-Ross in unserer Zeit, können- äußerst unmenschlich werden, wenn sie als normative Vorgaben schematisch und lieblos angewandt werden. Überhaupt wären die Begriffe der Liebe und der Barmherzigkeit in historischer Perspektive von neuem nicht nur in den Diskurs der Palliativmedizin, sondern den der Medizin schlechthin einzuführen. So möchte ich mit einem Zitat von Paracelsus schließen, das gewissermaßen die Quintessenz der ärztlichen Ethik aus seiner Sicht wiedergibt. 1530 schrieb er in der Abhandlung „Von den hinfallenden Siechtagen“: „der Christ […] weiß, […] das die barmherzikeit der arzt selbs ist. Ist sie groß, groß ist auch der arzt, auch die lieb ist sie groß, so ist auch groß das werk des arzts“.[8] 

 


[2] Lueg, 1995, S. 167,

[4] Freud, 1915; in Gesammelte Werke, Bd. Bd. 10, S. 341.

[5] T. Noack, F. Fangerau, J. Vögele: Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. München; Jena 2007, S. 68.

[6] F. Steger: GTE Medizin. Göttingen 2011. S. 119 f.

[7] H. Schott: Eros und Thanatos. Spekulationen über Tod und Sterben in der Medizin. In: Leiden, Sterben und Tod. Eine Ringvorlesung […]. Hg. von Johanna Geyer-Kordesch, Peter Kröner und Horst Seithe. (Schriftenreihe der Westfälischen Wilhelms-Universität; NF Heft 7). Mün­ster 1986; S. 70-91, hier: S. 84.          

[8] Paracelsus, Ed. Sudhoff, Bd. 8, S. 267.