Wunder aus dem Buch der Natur: Empirie, Spekulation und Bildlichkeit in den Monographien und in den Miscellanea der jungen Academia Naturae Curiosorum (2016)

Redemanuskript meines (Teil-)Vortrags, den ich am 6.12.2016 am Studienzentrum der Leopoldoina in Halle (Saale) gehalten habe. [1]

Die Bilder meiner PPT-Folien sind  in den Text integriert.

Anmerkung vom 15.05.2019

Der Artikel wurde inzwischen unter demselben Titel veröffentlicht in:

Acta Historica Leopoldina Nr. 74, 157-170 (2019) [derzeit ist der Band nicht online]

In diesem Blog-Beitrag findet sich der Link auf den veröffentlichten Text (Scan des Sonderdrucks).

 

VORTRAGSMANUSKRIPT

Die Academia Naturae Curiosorum wurde bekanntlich 1652 von vier Ärzten in der Freien Reichsstadt Schweinfurt gegründet. Sie initiierten ein gemeinsames Forschungsprogramm, wie es Philipp Sachs von Lewenheimb (1627-1672), damals Stadtarzt von Breslau, in seinem Bewerbungsschreiben von 1658 zum Ausdruck brachte. Er schrieb an den ersten Präsidenten der Akademie Lorenz Bausch (1606-1665), dass die mannigfaltigen Schätze „aus der heiligen Schatzkammer der Natur“ gehoben werden sollten. Aber die Gelehrten „sollten das schöne Antlitz der Natur nicht an der Oberfläche betrachten,  vielmehr ihre innersten Eingeweide aufs wissbegierigste erforschen“. [2]   Nach dem Tod von Lorenz Bausch 1665 folgte ihm Sachs von Lewenheimb als Akademiepräsident. Er veröffentlichte den ersten Band der Miscellanea curiosa sive Ephemeridum medico-physica, ein wissenschaftliches Jahrbuch, das von Korrespondenten eingesandte „Beobachtungen“ (Observationes) versammelte. Ich nehme hier nur die beiden ersten Bände der Zeitschrift in den Blick, die 1670 bzw. 1671 unter der Regie von Sachs erschienen und . Ich greife dabei einige illustre Beispiele heraus. Insofern kann ich  lediglich einen fragmentarischen Einblick in ein Gebiet geben, das noch systematisch zu erforschen wäre. Ich möchte das Thema in fünf Schritten entfalten.

  1. Forschungsgemeinschaft: Academia Naturae Curiosorum und Royal Society

Wenn man sich die Korrespondenz zwischen  Henry Oldenburg, dem Sekretär der Royal Society und Sachs von Lewenheimb, dem Mitglied bzw. Präsidenten der Academia Naturae Curiosorum um 1670 ansieht, so fällt einem der hohe Respekt auf, mit dem sich die Vertreter der recht verschieden organisierten Wissenschaftsakademien begegnen.  In einem Brief an Oldenburg vom 12. Januar 1665 pries Sachs die führenden Männer der Royal Society, “welche die Wahrheit durch geeignete Experimente herausfinden wollen, in Eurer lobenswerten englischen Art. […] so führte ihre Liebe zum Erforschen der Warhheit die berühmten Bacon und Digby zusammen mit den genialen Harvey, Boyle, Charleton, Highmore, Glisson und Willis dazu, viel neues Licht auf die Medizin zu werfen.”[3] Und ziemlich bescheiden gibt Sachs die “schwächere Sturktur” der eigenen Akademie zu,  “sodass unser Kollegium, das so verstreut über die Provinzen im weiten Deutschland, von geringerer Stärke ist, als die hochberühmte Gesellschaft mit ihrem permanenten Sitz in London […] gesegnet mir königlichen Zuwendungen […] vollständig ausgestattet mit allem, was zur Durchführung von Experimenten nötig ist […] Wir Deutsche kennen nur engere Grenzen, Geldgeber mit schmaleren Geldbeuteln.  […] Unser Kollegium ist hier und dort verstreut; seine Mitglieder sind Ärzte, die von den Mühen ihrer Praxis erschöpft nur wenige freie Stunden für Naturexperimente finden.”[4]

Oldenburg antwortete in seinem Brief vom 30. Mai 1665, dass die Royal Society dabei sei, “die Naturforschung [philosophiam] auszubauen, nicht nur im Hinblick auf die Medizin, sondern auf alles, was die Nützlichkeit und Annehmlichkeit für das menschliche Leben betrifft […], indem sie in ihr [der Natur] Heiligtum  eindringt, zu diesem Zweck ist sie so geschäftig wie mit nichts anderem, einen Speicher, eine Schatzkammer an Beobachtungen und Experimenten aufzubauen.“[5] Im Anschluss daran unterstrich Oldenburg die Notwendigkeit, diesem Vorhaben entsprechend alle Funde durch eine Kombination der Ressourcen zusammenzutragen, und er forderte die deutschen Akademiekollegen auf, “uns mitzuteilen, was auch immer Ihr Land hervorbingt, das im animalischen, vegetabilen oder mineralischen Reich bemerkenswert ist.“ [6] In seinem Brief  an Sachs vom 14. März 1667, in dem er sich nach neuen Forschungsergebnissen aus Deuschland erkundigte, betonte Oldenburg noch einmal: “Es ist unsere Absicht, […] die Sache der Naturforschung [rem philosophicam] durch den Zusammenschluss der Geister („association of minds“ [iunctisque ingeniis]) voranzubringen.”[7]

Die hier zitierte Korrespondenz belegt einen aufgeschlossenen Dialog. Das gemeinsame Ziel war klar: Die “association of minds” [iunctisque ingeniis] zur Förderung der Naturforschung. Man versuchte, gegenseitig voneinander zu lernen und ignorierte nationale Grenzziehungen. Es wäre sicher interessant, in diesem Kontext den Einfluss der Rosenkreuzer-Idee einer wissenschaftlichen Aufklärung und „Generalreformation“ der Gesellschaft zu erforschen, die ein halbes Jahrhundert zuvor, am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, die Gemüter der Gelehrten bewegt hatte. Angesichts der Grausamkeiten und gesellschaftlichen Zerstörungen war die Sehnsucht einer Humanisierung der Welt gerade im Bereich der Wissenschaften offensichtlicht. So wurde die Idee einer “association of minds” (Oldenburg), einer wissenschaftsaffinen Bruderschaft, die einander feindlich gesonnene Ideologien im Sinne der Naturforschung überwinden sollte, für Intellektuelle ziemlich attraktiv, vor allem für Naturforscher und Alchemisten in ihren akademischen Zirkeln.

 

  1. Naturphilosophie: Zur Leitidee der Akademiemitglieder

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war die Naturphilosophie mit ihren verschiedenen theoretischen und praktische Aspekten ein lebendiges Konzept, welches das Mikrokosmos-Makrokosmos-Modell, die natürliche Magie (Magia naturalis), die Signaturenlehre, alchemistische Prozeduren, hermetische Ideen usw. miteinander verknüpfte.  Bevor der erste Band der Miscellanea 1670 erschien, waren die Akademiemitglieder aufgefordert, Monographien über eine einzige Substanz oder ein bestimmtes biolgisches Objekt, etwa eine Pflanze, ein Mineral oder ein Tier zu verfassen und dabei insbesondere auf mehr oder weniger verborgene Heilkräfte zu achten. Beispielhaft sei auf das Frontispiez von Johann Michael Fehrs Anchora sacra, vel scorzonera [Schwarzwurzel] von 1666 verwiesen. (Abb. 1)

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Abb. 1: Johann Michael Fehr: Anchora sacra; vel scorzonera curiosa (Jena 1966): Titelblatt

Fehr folgte Lorenz Bausch nicht nur als  Präsident der Academia Curiosorum Naturae nach – er amtierte von 1666 bis bis zu seinem Tod 1686 –, sondern auch als Stadtphysikus von Schweinfurt. Das Bild zeigt die typische fundamentale Trinität: Gott – Natur – Mensch.  Blickt man auf das geöffnete Buch, die Bibel der Natur, die Heilige Schrift der zeitgenössischen Naturforscher, entdeckt man genau diese Trinität: die göttliche Feuerwolke auf der rechten Seite oben, die mit ihren Strahlen das menschliche Auge erleuchtet (es handelt sich um ein linkes Auge, das in jener Zeit das menschliche im Gegensatz zum rechten Auge Gottes bedeutete).  Somit ist der Mensch fähig, die Naturdinge im Buch der Natur zu studieren, im konkreten Falle die Schwarzwurzel (Scorzonera). Die medizische Symbolik ist offensichtlich: Der gelehrte Arzt mit dem Asklepiosstab, selbst als personifizierter Heilgott erscheinend, zeigt auf das natürliche Geschehen zwischen Leben und Tod – symbolisiert durch die beiden Heilschlangen, die mit ihen Köpfen auf die Seiten des Buchs weisen und die todbringendem Giftschlangen, die sich auf der Erde winden. Der Sinn ist, typisch für die Kunst der Emblematik, vieldeutig („überdeterminiert“ gemäß der Diktion von Sigmund Freud).

Ein anderer wichtiger Wesenszug der Naturphilosophie war die theoertische Vorstellung und bildliche Darstellung der Natur als Frau, als kosmische Alma Mater, welche die Naturdinge hervorbringt und insgeheim als Magierin im Dienste Gottes arbeitet. Die solchermaßen personifizierte Natura forderte die Naturforscher heraus, ihren Fußstapfen zu folgen, um ihren Geheimnissen auf die Spur zu kommen, wie auf dem Kupferstich von Matthäus Merian zu sehen. (Abb. 2)

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Abb. 2: Titelblatt des Musaeum Hermeticum (1677): Ausschnitt; Kupferstich von Matthäus Merian

In diesem Sinne ist das Frontispiz des ersten Bandes der  Miscellanea bezeichnend. (Abb. 3)

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Abb. 3: Miscellanea Curiosa, vol. 1, 1670, Frontispiz

Wir erblicken ein stilisiertes Pantheon. Das Tageslicht kommt von oben durch das opaion, auch „Auge“ genannt. Außer dem kaiserlichen Adler in der Mittes der Kuppel sind alle menschlichen Figuren weiblich. Zwei davon stellen Göttinnen dar: nämlich Physis (die Natur, hier der Isis ähnelnd) und Hygeia (die Heilgöttin). Die drei Naturreiche (das mineralische, animalische und vegetabile) knien vor dem Altar. Die Botschaft war klar: Die Akademiemitglieder sollten “die Geheimnisse der Mutter Natur [Omniparentis Naturae Arcana]” erforschen, um zum Ruhme Gottes die Rettung der Menschheit voranzubringen, wie es im Aufnahmedokument der Akademie für neue Mitglieder einige Jahre später zu lesen war.[8] Zusammenfassend ist festzuhalten, dass religiöses bzw. mythologisches Denken eng mit wissenschaftlicher Forschung verquickt war und einen intellektuellen bias bildete.

3.             Signaturenlehre: Die Natur als eine geheimnisvolle Designerin

Die Signaturenlehre war eine tragende Säule der frühneuzeitlichen natürlichen Magie (Magia naturalis). Naturdinge mit ähnlichen Qualitäten sollten demnach sympathetisch miteinander korrespondieren und entsprechend therapeutisch anwendbar sein. So vermutete man, dass das Mineral Hämatit, auf Deutsch “Blutstein”,  Blutungen stillen, alle möglichen Blutkrankheiten heilen und allgemein die Lebenskräfte stärken könne – wegen der roten, blutähnlichen Farbe des entsprechenden Pulvers.  So veröffentliche Lorenz Bausch in seinem Todesjahr 1665 seine Monographie über den Blutstein De Lapide Haematite , worin er auf 164 Seiten systematisch alle physiologischen und therapeutischen Wirkungen zusammentrug, die er aus den ihm bekannten medizinischen und pharmazeutischen Quellen aller Zeiten erschließen konnte.

Im ersten Band der Miscellanea finden sich nun eine Reihe von Bezügen zur Signaturenlehre, etwa wenn Sachs von Lewenheimb in der 48. Observatio von monströsen anthropomorphen Rüben (rapa monstrosa anthropomorphica) berichtet.  Die Abbildung zeigt eine “RADYS DER HEYDEN“, also eine Heidenwurzel, die angeblich 1628 in einem Garten gefunden wurde. (Abb. 4)

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Abb. 4. : Miscellanea vo. 1 (1670) Obersatio 48 von  Sachs von Lewenheimb

(Ein Sprung zum gerade erschienenen letzten Band der Acta Historica Leopoldina: Dessen Einbandbild zeigt diese „Radys der Heyden“. [Abb. 5])

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Acta Historica Leoopoldina  Band  65 (2o16)

Dass ein solcher monströser Fund die Aufmerksamkeit erregte, ist keineswegs überraschend, wenn man bedenkt, wie stark gerade in der Botanik die  Wahrnehmung durch die traditionelle Signaturenlehre geprägt wurde. Klassisches Beispiel ist die anthropomorphe Gestalt der Mandragora (Alraune), deren Wurzel man seit der Antike magische Kräfte zuschrieb.  (Abb.en 6 und 7)[9]

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Abb. 6: Mandragora aus Disocurides Neapolitanus (um 700) nach Materia medica des Diskorides (1. Jh.)

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Männliche und weibliche Alraunen aus dem Hortus sanitatis (um 1498)

Sachs bezog sich in siner Observatio auf mehrere nahmhafte Autoren der Epoche, darunter Oswald Croll, Giambattista Della Porta und Athanasius Kircher. Er argumentierte hier ausdrücklicals Naturphilosoph, indem er die Schöpferkraft der Natur per se unterstrich: “Niemals ist die Natur müßig  [Nunquam Otiosa Natura], immer strebt sie nach Vervollkommnung, oft mit einem groben und oft mit einem kaum nachzuahmenden Pinsel, manchmal kunstfertig mit Meißel oder Töpferscheibe, indem sie versucht, die menschliche Gestalt nachzumachen, die vollkommenste Schöpfung, oder zumindest andere natürliche Dinge abzubilden.“[10] (Übrigens lautet der Leitspruch der Akademie bis heute: nunquam otiosus. Er besagt letztlich: Die Naturforscher sollten die niemals müßige Natur nachahmen.) Sachs kam zum Schluss, dass die “hermetischen Ärzte” (Physici Hermetici) befähigt seien, aus den von der Natur hervorgebrachten Signaturen die Heilkräfte der Pflanzen (vires herbarum) abzuleiten.[11]

Im Folgenden möchte ich auf einige Abbildungen verweisen, die den Einfluss der Signaturenlehre in der Anfangszeit der Miscellanea belegen. Die Observatio 111 im ersten Band präsentiert ein Crucifuxus ex radice crambes enatus (Kruzifix, einer Meerkohlwurzel entsprossen).[12] (Abb. 7)

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Abb. 7: Kruzifix aus einer Meerkohl-Wurzel entsprossen; Miscellanea vol. 1 (1670) Observatio 111 (von G. S. Jung)

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Abb. 8: Crucifixum Donsae; aus: Appendix […] Ad Annum Primum Miscellaneorum (1671); Kommentar von Sachs von Lewenheimb zur Observatio 111

Der Autor Georg Sebastian Jung (1642/43-1682), ein Wiener Hofarzt, charakterisierte diese Wurzel als ein “Stupendum Naturae miraculum” (ein verblüffenfes Wunder der Natur). In seinem ausführlichen Kommentar führte Sachs von Lewenheimb ein anderes Beispiel einer kruzifixartigen Wurzel vor.[13] (Abb. 8)

Diese Wurzel einer Lilie war auf ein Kreuz fixiert und wurde in Donsa (Deinze), einer Stadt in Ostflandern ausgestellt (Crucifixum Donsae). Es war mit einem silbernen Kruzifix verblendet und spielte, wie Sachs berichtet, im religiösen Leben eine Rolle. Auch solche ethnographische Daten waren also von Interesse. Er erwähnte auch noch andere Beispiele in seinem Kommentar.In einer weiteren Obervatio beschrieb Georg Sebastian Jung ein Bild der Madonna (IMAGO B. MARIAE VIRGINIS CUM FILIO IN MINERA FERRI EXPRESSA) in einem Stück Eisenerz, das 1619 in Innerberg (heute: Eisenerz), einem alten Bergwerksort in der Steiermark, gefunden worden sei.[14] (Abb. 9) Ja, auch sein berühmter Zeitgenosse Athanasius Kircher habe, so Jung, analoge Marienbildnisse erwähnt.

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Das Bild der Madonna in einem Stück Eisenerz; aus Miscellanea vol.1 (1670): Observatio 113 (von G. S. Jung)

Neben solchen göttlichen Figuren offenbarten Naturdinge auch schlechthin menschliche. So zeigte der polnische Botaniker und Arzt Martin (Marcin) Bernhardi de Bernitz (1625-1682)[15] in seiner Observatio Orchideen mit menschentragenden (Anthropophoros) Blüten – männlichen und weiblichen Blüten.[16] (Abb.en 10 und 11)

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Abb. 10: „Männliche“ Blüten tragenden Orchideen; aus Miscellanea vol. 2. (1671): Observatio 41 (von M. Bernhardi de Bernitz)

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Abb. 11: „Weibliche“ Blüten tragende Orchideen; Quelle siehe Abb. 10

Orchideen boten ein Musterbeispiel für die traditionelle Signaturenlehre: Ihre hodenartigen (gr. orchis = Hoden) Wurzelknollen sollten männliche Potenz und Fruchtbarkeit anzeigen. In dieser Perspektive studierte Bernhardi besondere Orchideenarten, “Satyre”, wie er sie nannte (SATYRIORUM SPECIES SINGULARES) (Abb. 12)

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Abb. 12: Hodenförmitge Wurzelknollen der Orchideen; aus Miscellanea vol 2 (1671): Observatio 41 (von M. Bernhardi de Bernitz)

Die äußere Form der Wurzelknolle sollte also darin verborgene männliche Kraft anzeigen, was im Vergleich zum SATYRION CASTRATUM SEU EUNUCHUM  (siehe rechtes Bild) augenfällig schien. (Abb. 13)

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Abb. 13: Die Kastraten- oder Eunucheform der Orchideenwurzel (Quelle siehe Abb. 12)

Damit wird jene Sicht bestätigt, die bereits von berühmten Naturforschern des 16. Jahrhunderts, wie Giambattista Della Porta oder Leonhart Fuchs ins Bild gesetzt worden waren. Ein anderes Beispiel gibt der Stadtarzt Georg Seger (1629-1698) in seiner Observatio eines anthropomorphen Pilzes (Fungus Anthropomorphos), der angeblich in den Wäldern von Altdorf 1661 gewachsen sei.[17] (Abb. 14)

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Abb. 14: Ein anthropomorpher Pilz; aus Miscellanea vol. 2 (1671), Observatio 55 (von M. Bernhardi de Bernitz)

bild16Es gibt eine Gruppe von Beobachtungen, die sich explizit mit Monstrositäten auseinandersetzten, einem seinerzeit immer noch populären Gegenstand, freilich jetzt ohne religös-moralische Deutungen und Vorhersagen, wie sie im 16. Jahrhundert noch gang und gäbe waren. Ein eindrückliches Beispiel ist das monströse Lungenmoos (MUSCUS PULMONARIS MONSTROSUS), das Bernhardi in einer anderen Observatio abhandelte.[18] (Abb. 15) Er war vom larvierten Gesicht (Facies larvata) fasziniert und erzählt uns, dass er dieses wunderbare Spiel der Natur (Mirum Naturae lusum) zufällig auf einer Eiche gefunden habe, als 1657 durch einen Wald spazierte.

Offensichtlich bestand der epistemische Wert solcher Bilder nicht in erster Linie darin, eine umfassende Sammlung von ähnlichen Naturobjekten anzulegen, die im Einzelnen zu registrieren, zu zeichen, zu klassifizieren und miteinander zu vergleichen seien. Vielmehr zeigten dies Bilder einzigartige, seltsame Naturdinge, Zufallsfunde, die den Betrachtern Zeichen und Wunder der arkanen, okkulten, schöpferischen Natur vor Augen führen sollten.

4.       Natürliche und medizinische Magie: Die Übertragung von Lebenskraft

Im ausgehenden 17. Jahrhundert war das Konzept der natürlichen Magie (Magia naturalis) für das Denken und Handeln von Ärzten und Naturforschern noch grundlegend. „Natürliche Magie” bedeutete so genannte weiße Magie: Eine Zauberkunst ohne Dämonen oder Teufelspakt, einzig und allein durch sorgfältiges Studium der Wunderwerke der Natur. Dieser Ansatz war von großer Bedeutung bei der großen und lang anhaltenden Kontroverse über die so genannte Waffensalbe, die sich von der ersten Hälfte des 16. bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hinzog. Die Salbe wurde auf die blutige Waffe (etwa Schwert oder Messer) und nicht auf die Wunde geschmiert und sollte die Wunde durch feine Ausdünstungen (effluvia) heilen, die rückläufig von der gesalbten Waffe zur Wunde strömen würden, selbst wenn der Verwundete viele Meilen entfernt sei. Ein Bestandteil der Waffensalbe unter vielen war das Moos von einem menschlichen Schädel (usnea cranii humani), vielfach von dem eines Hingerichteten. Dieser Brauch war immerhin auch dann noch populär, als die ersten Bände der Miscellanea erschienen, wie das folgende Beispiel zeigt.

Der bereits erwähnte Martin (Marcin) Bernhardi de Bernitz sandte eine sehr interessante Observatio an Sachs von Lewenheimb, der sie im zweiten Band der Miscellanea 1671 publizierte: Ruta muraria et muscus crustaceus in cranio humano (Mauerraute und verkrustetes Moos auf einem menschlichen Schädel).[19] (Abb. 16)

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Abb. 16: Mauerraute und Moos auf einem menschlichen Schädel; aus Miscellanea vol. 2 (1671): Observatio 53 (von M. Bernhardi de Bernitz)

 

Hier sieht man den Schädel, der angeblich 1652 gefunden wurde, also im Gründungsjahr der Akademie. Man kann die Mauerraute auf der Seite der Kalotte vom Moos auf dem Schädeldach unterscheiden. Es ist bemerkenswert, dass der Autor nicht den Schädel oder die Pflanzen darauf genauer beschreibt. Vielmehr dient diese Abbildung eher zur Erinnerung an die große Menge von Literatur, die sich mit dem therapeutischen Effekt besonderer Pflanzen, die auf menschlichen Schädeln wachsen, befasst. So zählt Bernhardi alle ihm aus der Literatur bekannten Kräfte und Anwendungen der usnea cranii humani (Bartflechte des menschlichen Schädels) auf. Sie sei wirksam gegen Epilepsie und andere Krankheiten des Kopfs, gegen Nasenbluten, wobei er sich auf Hildanus, Paracelsus und andere Autoritäten bezieht. Am meisten interessiert ihn jedoch die Zubereitung eines Amuletts mit Usneae microcosmi, seu Musci cranii humani (Moos vom menschlichen Schädel). Ein solches Amulett würde gegen Blutungen aller Art wirken, einschließlich verstärker Regelblutungen (bei der Frau), Hämorrhoiden (beim Mann) und Wunden. Selbstverständlich erwähnt Bernhardi die legendäre Waffensalbe (Unguentum Armarium), die auch von vielen anderen beschrieben und empfohlen worden sei, wie etwa Oswald Croll (1560-1609), Rudolph Goclenius d. J. (1572-1621) und Johan Baptist van Helmont (1580-1644). Die wichtigste Ingredienz dieser „magnetisch“ wirkenden Salbe war demnach das Moos vom Schädel eines Gehenkten. Die betreffende Observatio endet mit der Beschreibung einer praktischen Methode, die ihm ein Freund erzählt habe: Man könne das Moos innerhalb kurzer Zeit erhalten, indem man den Schädel mit Olivenöl einöle und ihn an einen abgeschiedenen Ort im Wald deponiere.

5.       Arbeitsprogramm: Die Enthüllung der Geheimnisse der Natur

In der frühen Neuzeit, als das Lesen in der „Bibel der Natur“ angesagt war, wollten die Gelehrten die geheimen Botschaften der Natur entschlüsseln, indem sie ihre wunderbaren, monströsen Signaturen nachspürten. Was konnte eindrucksvoller und überzeugender sein, als die Abbildung eines Naturdings, die einen schriftlichen Bericht illustrierte? Allerdings bedeuten solche Illustrationen nicht, dass sie Objekte als solche wiedergaben, um sie im Einzelen besser analysieren und beschreiben zu können. Eher handelte es sich um exemplarische Gegenstände, die ihre volle Bedeutung nur im gesamten Kontext der betreffenden Observatio erlangen konnten. Das Objekt wurde durch eine vergleichende Betrachtung aller Daten gedeutet, einschließlich der historischen Berichte. Es galt, die Funde so zu sammeln und zu arrangiren, wie es in den Naturalienkabinetten der frühen Neuzeit, den Wunderkammern, üblich war.  Insofern ähneln die die frühen Bände der Miscellanea einer virtuellen und sich ständig erweiternden Wunderkammer, in der die eingereichten Observationes in einem gemeinsamen Narrativ der Gelehrten wie in einer Schatzkammer angehäuft wurden.

Diese beschränkten sich keinewegs nur auf das Auffinden und Beobachten von Naturdingen als bedeutungsvolle Wunder der Natur. Sie umfassten auch dazugehörige historische Schilderungen und Dokumentationen, aber auch persönliche Berichte über individuell angestellte Experimente. Diesen Ansatz gemeinsamen Forschens könnte man mit zwei modischen Begriffen charakterisieren: networking und big data.  Der epistemische Gedanke der frühen Academia Curiosorum Naturae zielte auf wissenschaftliche Aufklärung. Der einzelne Naturforscher arbeitete im Verbund mit gegenwärtigen Freunden und Kollegen und – gleichermaßen wichtig – mit historischen Autoren und Zeugnissen. Nie war die Hoffnung größer als damals, die Menschen – man denke an die Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs – mit Hilfe der Wissenschaft, der wissenschaftlichen Aufklärung, überwinden zu können.

Die Abbildungen aus den Miscellanea curiosa medico-physica Academiae Naturae Curiosorum sive Ephemeridum medico-physicarum germanicarum curiosarum; vols. 1 u. 2. Leipzig 1670 und 1671 sind online an verfügbar: https://archive.org

Literatur

Appendix seu Addenda Curiosa Omissorum Ad Annum Primum Miscellaneorum […]. Leipzig 1671.

Hall, A. Rupert & Marie Boas Hall (eds.): The Correspondence of Henry Oldenburg. Vol 7, 1670-1671. Madison, Milwaukee, and London 1970.

Miscellanea = Miscellanea curiosa medico-physica Academiae Naturae Curiosorum sive Ephemeridum medico-physicarum germanicarum curiosarum. Vol. 1: Leipzig 1670; vol. 2: Leipzig 1671.

Schott, Heinz: Medizin, Naturphilosophie und Magie. Johann Laurentius Bausch aus medizinhistorischer Sicht. In: Die Gründung der Leopoldina – Academia Naturae Curiosorum – im historischen Kontext. Johann Laurentius Bausch zum 400. Geburtstag. Ed. by Richard Toellner, Uwe Müller, Benno Parthier, and Wieland Berg. Acta Historica Leopoldina 49 (2008): pp. S. 191-214.

Endnoten

[1]    Vortrag (2. Teil), den ich gemeinsam mit Wolfgang Eckart im Rahmen der Wissenschaftshistorische Seminare am Leopoldina-Studienzentrum in Halle (Saale) am 6.12.2016 gehalten habe.

[2]    Vgl. Schott, 2008, p. 192.

[3]    Zit. n.  Hall and Hall (eds.), 1966, vol. II, p. 235: “in order to seek out truth by proper experiments, in your praiseworthy English way. […] so their love of inquiring after truth led the illustrious Bacon and Digby, with ingenious Harvey, Boyle, Charleton, Highmore, Glisson and Willis throw much new light upon medicine.” [Übersetzung der Zitate aus diesem Buch von H. S.].

[4]    Zit. ebd.:  “so our College dispersed over the provinces of broad Germany is of less strength than the Illustrious Society with its permanent seat in London […] cherished by royal grants […] quite furnished with everything necessary performing experiments […] We Germans know only narrower limits, magnates with slenderer purses […]. Our College is scattered hither and yon; its members are medical men exhausted by the cares of practice who find few spare hours for natural experiments.”

[5]    Zit. a.a. O., S. 401: “to reconstruct philosophy, not as it pertains to medicine alone, but as it concerns all that pertains to the usefulness and convenience of human life […] penetrating into her [Nature’s] very sanctuary, to this end it is busy with nothing so much as building up a store and treasury of observations and experiments.”

[6]    Vgl. ebd.

[7]    Zit. n. Hall and Hall (eds.), 1966, vol. III, S. 364 f.

[8]    Cf. Schott, 2008, p. 214.

[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Alraune_(Kulturgeschichte)

[10]   Ibid., p. 139. “Nunquam Otiosa Natura semper ad perfectionem tendens, etiam saepè rudi, saepè vix imitabili pnicillo, inderdum etiam artificioso scalpro & plastico torno, Hominis, perfectissimae creaturae, figuram imitari, aut ad minimum alias res naturales effingere conatur.”

[11]   Ibid., p. 144.

[12] Miscellanea curiosa, vol. 1 (1570), pp. 261-262.

[13] Appendix seu Addenda Curiosa Omissorum Ad Annum Primum Miscellaneorum […] (1671), pp. 24-29.

[14] Miscellana curiosa, vol. 1 (1670), pp. 264-265.

[15] http://encyklopedia.acceptance.pwn.pl/index.php?module=haslo&id=3876439 (19.05.2016)

[16] Miscellanea Curiosa, Observatio 91: vol. 1 (1670), pp. 73-79.

[17] Miscellanea Curiosa, Observatio 55: vol. 2 (1871), pp. 112-113.

[18] Miscellanea Curiosa, Observatio 55: vol. 2 (16719, pp. 89-91.

[19] Observatio 53: Miscellanea curiosa, vol. 2 (1671), pp. 96-106.