Vom 8. bis 10. Oktober 2018 fand die Herbsttagung des Leopoldina-Studienzentrums in Halle (Saale) statt:
Kann Wissenschaft in die Zukunft sehen?
Prognosen in den Wissenschaften
Hier der Link auf die Leopoldina Homepage.
Hier der vorbreitete Text meines Statementes bei dem die Tagung eröffnenden Roundtable-Gespräch am 8.10.2018, von dem ich mich jedoch in freier Rede weitgehend gelöst habe
Podiumsdiskussion am 8.10.2018
Zur Notwendigkeit und zu Erfolgsfaktoren wissenschaftlicher Prognosen
Statement von Heinz Schott
Kann Wissenschaft in die Zukunft sehen?
Ob und inwiefern Wissenschaft in die Zukunft sehen kann, sei dahingestellt. Aber der Anspruch, aufgrund einer wissenschaftlichen Analyse gegebener Fakten Zukünftiges zuverlässig vorhersehen zu können – wenngleich eventuell auch nur durch Wahrscheinlichkeitsrechnungen eingeschränkt – , ist ein Wesensmerkmal wissenschaftlicher Forschung. Prognosen in den Wissenschaften haben insofern etwas mit denen der Magie und Religion gemeinsam, als auch letztere mit systematischen Beobachtungen und Beschreibungen verknüpft sind. Der Hinweis auf die mantischen Künste in der Antike, etwa die Astrologie, die zugleich Ausgangspunkt der Astronomie war, soll hier genügen.
Inwiefern hat die Prognostik eine politische und damit gesellschaftliche Funktion?
Wahrscheinlich hat die Prognostik zu allen Zeiten eine wichtige Funktion im Hinblick auf das gehabt, was wir heute „Politikberatung“ nennen – von der Antike bis heute (ich verweise auf den Vortrag von Stefan Maul: „Prognose im Alten Orient“ und den von Christian Hof: „Prognosen in der Zukunft des Menschen: Biodiversität“). Wissenschaftliche Prognosen dienen gerade heute in Politik und Gesellschaft zur Legitimierung grundlegender Entscheidungen und haben insofern eine immense Bedeutung für die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft. Besonders augenfällig wird dies beispielsweise an der flächendeckenden „Verspargelung“ der Naturlandschaft mit Windrädern aufgrund prognostischer Modellrechnungen der Klimaforschung, die von einem anthropogenen Treibhauseffekt durch CO2-Emmissionen als primäre Ursache des Klimawandels ausgeht.
Inwiefern können notwendige wissenschaftliche Prognosen problematisch sein?
Ein Beispiele aus der Medizin soll genügen. Der Arzt muss bei einer therapeutischen Intervention, etwa in der Onkologie, wissen, wie sich diese auf den weiteren Krankheits- bzw. Heilungsprozess seines Patienten auswirkt. Aber auch die besten Richtlinien der evidenz-basierten bzw. personalisierten Medizin haben – bezogen auf den individuellen Kranken – ihre unaufhebbare prognostische Unschärfe bezogen auf den einzelnen Menschen und sein „Schicksal“ (selbst wenn wir vom Phänomen der „Wunderheilung“ oder „Spontanremission“ einmal absehen, das sich jeder Prognostik entzieht). Man ist hier mit dem Problem der Wahrscheinlichkeit konfrontiert, wie in der Meteorologie und anderen Disziplinen.
Was sind die Erfolgsfaktoren wissenschaftlicher Prognosen
Prognosen können eine gewaltige Durchschlagskraft im sozialen und politischen Raum entfalten, wenn sie in eine Wechselwirkung mit dem „Zeitgeist“ treten und zu einer mächtigen Ideologie verschmelzen. Wenn wir uns die Erfolge der präventiven Medizin durch Bakteriologie und Hygiene Ende des 19. Jahrhunderts vor Augen halten, so offenbart sich der Erfolg wissenschaftlicher Prognostik sehr überzeugend, etwa im Hinblick auf Impfprogramme und hygienische Maßnahmen. Freilich erscheinen die Misserfolge wissenschaftlicher Prognostik noch spannender zu sein. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Rassen- und Erbbiologie im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die scheinbar biologisch und statistisch bewiesenen Vorhersagen der Rassen- und Erbbiologen, wonach die Menschheit durch ungehinderte Fortpflanzung minderwertiger bzw. krankhafter Erbanlagen oder auch durch verderbliche Rassenmischung in naher Zukunft zugrunde gehen würde, schürte eine biologische Untergangsangst, auf der später die radikalen Programme des NS-Regimes aufbauen konnte (Stichwörter: Ausmerze und Auslese). Kaum ein Mediziner, kaum ein Wissenschaftler konnte sich damals dem Sog des Biologismus entziehen, was keineswegs nur auf Deutschland zutrifft. Dies sollte uns heute zu denken geben, wenn heute eine bestimmte wissenschaftliche Prognose als unumstößliche Wahrheit ausgegeben wird. wie seinerzeit die erbbiologisch argumentierende Degenerationslehre.
Wie können wir uns vor prognostischen Irrtümern oder Irrwegen schützen?
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Prognostik, ihre „radikale Historisierung“ (Olaf Breidbach), ist aus meiner Sicht das geeignete Mittel, um sich vor prognostischen Fixierungen und den damit zusammenhängenden massenpsychologisch wirksamen Strömungen zu schützen. Die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte bietet uns reichhaltiges Anschauungsmaterial für prognostische Irrwege. Die Rassenbiologie habe ich schon erwähnt. Wie sehr wissenschaftliche Prognostik von kulturellen, ideologischen und allgemeinpolitischen Faktoren abhängt und diese wiederum verstärken kann, lässt sich am Beispiel des „Waldsterbens“, einer deutschen mentalen Spezialität, in den 1980er Jahren, aufzeigen. Viele Ökologen und weite Kreise der Bevölkerung waren überzeugt, dass um die Jahrtausendwende der Schwarzwald mehr oder weniger verschwinden und einer Karstlandschaft Platz machen würde. (Ich war seinerzeit in Freiburg und erinnere mich an die betreffenden Diskussionen und Schreckensbilder). Weitere analoge Beispiele wären leicht zu finden. Wer sich mit der Geschichte der wissenschaftlichen Prognosen auseinandersetzt, ist gegen ideologisch fixierte Zukunftsvisionen gefeit, ob diese nun den Weltuntergang oder das Paradies auf Erden prophezeien. (Ich verweise auf den Abendvortrag von Joachim Radkau: „Im Zickzack deutscher Zukünfte“.)
Wie können wir Prognosen anthropologisch verstehen?
Wissenschaftliche Prognosen gehören wie die religiösen, etwa die Prophetie (es sei an die Offenbarung des Johannes, die Apokalypse erinnert) meines Erachtens zur conditio humana. Sie haben ein wichtiges Merkmal gemeinsam: Sie diagnostizieren einen verderblichen Zustand, der ohne angemessene Intervention bzw. Einstellung zum Untergang führt. Schuld kann abgetragen werden, der Sünder kann Buße tun,der Unterdrückte kann revoltieren. Nur dann ist Rettung möglich. Der Begriff des „Umwelt-“ oder „Klimasünders“ impliziert dieses Denken. Insofern enthält die Prognostik, sei sie wissenschaftlich, sei sie religiös verortet, einen Rettungsanker, gewissermaßen ein Evangelium: nämlich: „Wir können, ja wir müssen etwas tun“. Man denke an den „wissenschaftlichen“ Marxismus-Leninismus und seine prognostische Dialektik und davon abgeleitete Parteiprogramme.
Was aber passiert, wenn sich – jenseits aller Prognostik – Unvorhersehbares ereignet?
Wenn etwa Naturmächte am Werk sind, welche die absolute Ohnmacht des Menschen und seiner Kultur demonstrieren und die entweder wissenschaftlich vorhersagbar sind (wie der Einschlag größerer Meteoriten) oder sich wissenschaftlicher Prognostik entziehen (Erbeben, Vulkanausbrüche, Pandemien)? Wahrscheinlich ist der Gedanke des völligen Ausgeliefertseins so unerträglich, dass wir ihn weitgehend verdrängen müssen. Die anthropologische Frage ist letztlich kosmologisch-existenzieller Natur, dort, wo wir nicht nur nicht in die Zukunft sehen, sondern überhaupt nicht mehr sehen können. Platons Höhlengleichnis ist durchaus aktuell. Wer von uns kann es wagen, aus der Höhle der Prognostik ans grelle, blendende Tageslicht zu treten, ohne sich sofort wieder in die Höhle, die Illusion wissenschaftlicher Weissagekünste, zurückzuflüchten?