Judentum als Krankheit. Antisemitische Konstruktionen in der neuzeitlichen Medizin (2001)

Diesen Vortrag hielt ich im Rahmen der Ringvorlesung

„Das Bild des Anderen. Geschichtskonstruktionen zwischen Judentum und Christentum“

des SFB „Judentum – Christentum“ am 16. Juli 2001 in Bonn

Hier der Link zum Redemanuskript (PDF zum Download)

Judentum als Krankheit. Antisemitische Konstruktionen in der neuzeitlichen Medizin (Vortrag 2001)

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Das Bild des Anderen. Geschichtskonstruktionen zwischen Judentum und Christentum“ des  

 SFB 534: „Judentum – Christentum. Konstituierung und Differenzierung in Antike und Gegenwart“
Evangelisch-Theologische, Katholisch-Theologische, Medizinische und Philosophische Fakultät

Sprecher: Prof. Dr. Josef Wohlmuth, Dogmatisches Seminar
Laufzeit: 1999 – 2003

 am 16. Juli 2001 in Bonn

In der gegenwärtigen Medizinhistoriographie wird – wie in den anderen historischen Disziplinen auch – der Antisemitismus im Schlagschatten des Holocaust diskutiert. Rassenbiologie und Rassenhygiene, wie sie sich im Anschluß an Sozialdarwinismus und Eugenik gegen Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben, gelten dabei als die wichtigsten Triebfedern für die NS-Verbrechen. Dieser sog. „Biologismus“ im Zeitalter einer kulturpessismistischen „Untergangsangst“ am fin de siècle wird als wissenschaftshistorischer  Quellpunkt für die nationalsozialistische Rassenideologie mitsamt ihrem Antisemitismus gewertet. (Mann, 1985) Ich bezweifle, ob diese medizin- und wissenschaftshistorische Konstruktion oder besser gesagt: Rekonstruktion ausreicht, um die ungeheure Durchschlagskraft des Antisemitismus im Dritten Reich, dessen spezifische Konstruktion wirklich erklären kann.

Antisemitismus und Judenemanzipation gelten heute als „Inbegriffe zweier Kulturen, die im deutschen Kaiserreich nebeneinander existierten“ (Volkov, 1990, S. 35) und die in der Auseinandersetzung um allgemeine soziale und politische Zielsetzungen (autoritäre versus freiheitliche Positionen) eine wichtige Rolle spielten. Während in Wilhelminischen Gesellschaft noch ein Kompromiß zwischen den beiden Kulturen denkbar schien, verschärfte sich deren Konflikt in der Weimarer Republik, um schließlich im Dritten Reich zugunsten eines radikal veränderten Antisemitismus aufgelöst zu werden. Der Antisemitismus als „kultureller Code“ hatte sich nun in  eine brutalen Vernichtungsideologie verwandelt. (S. 36) Wir wollen uns im folgenden fragen, welchen Beitrag die Medizin hierzu geleistet hat bzw. inwiefern medizinische Begriffe und Vorstellungen – sog. Metaphern – ideologisch benutzt wurden.

Wenn wir uns der neuzeitlichen Medizingeschichte zuwenden fällt auf, daß das Judentum nicht immer mit Krankheit und Unheil in Verbindung gebracht wird, sondern vielfach auch mit Gesundheit und Heilung. Gewissermaßen könnten wir hier von der Konstruktion zweier Kulturen sprechen: Judentum als Kultur des Heilens, und Judentum als Kultur des Krankseins und Krankmachens. Wie wir sehen werden, können diese Positionen jedoch nicht per se dem Philosemitismus einerseits und dem Antisemitismus andererseits zugeordnet werden können. Wenden wir uns zunächst in aller Kürze den positiven Einschätzungen des Judentums zu, bevor wir die antisemistischen Konstruktionen im einzelnen betrachten.

Hygiene und Kabbala: die gesundmachende Tradition des Judentums 

 Es gibt prima vista drei Bereiche, in denen die jüdische Tradition von der europäischen Medizin als gesundheitsfördernd und heilsam angesehen wurde und wird: (1) Ernährungsvorschriften, (2) die Körperhygiene, (3) die Beschneidung. Ein weiterer Bereich (4) hat nur noch historische Bedeutung: Gewisse magisch-religiöse Heilmethoden im Sinne der jüdischen Kabbala erscheinen seit der Aufklärung wie Magie und Alchimie überhaupt als obsoleter Okkultismus.

(1) Die jüdischen Ernährungsvorschriften, also die Diätetik im engeren Sinne, haben von jeher die Aufmerksamkeit der Ärzte auf sich gezogen. So wurden die jüdischen Speisegesetze als Grund für die „sonderbare Immunität“ (Virchow; vgl. Jütte, 1998, S. 139) gegen Infektionskrankheiten und die vergleichsweise geringe Morbidität angesehen. Im Zeitalter der aufblühenden Hygiene und Naturheilkunde gegen Ende des 19. Jahrhunderts war es – sowohl für jüdische als auch für nichtjüdische Ärzte – naheliegend, die religiösen Speisegesetze wie viele andere Gebote der Halacha gewissermaßen hygienisch zu rationalisieren und ihnen eine medizinische Legitimität zu verleihen, was insbesondere zionistische Ärzte versuchten.

(2) Wenn von den hygienischen Errungenschaften des Judentums die Rede ist, wird in der Regel auf die Mikwe, das jüdische Ritualbad genannt. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die schlechten hygienischen Zustände dieser sog. „Kellerquellenbäder“ kritisiert und von ärztlicher Seite entsprechende Reformen angemahnt wurden, kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Meinungsumschwung, der letztlich bis heute anhält und sich zunächst im Katalog zur Dresdener Hygiene-Ausstellung von 1911 am deutlichsten niedergeschlagen hat: Dort erscheinen die jüdischen Ritualbäder als ein „bewunderungswürdiges Beispiel für den hohen Standard der Hygiene im Judentum“. (Jütte, 1998, S.139)

(3) Die gesundheitlichen Vorteile der (männlichen) Beschneidung (mila als Ritual; medizinisch: Circumcision) sind heute in jedem medizinischen Lehrbuch nachzulesen. Aber auch in kulturhistorischen Beiträgen wird regelmäßig auf die medizinische Vernünftigkeit dieses Eingriffs hingewiesen: Prävention der Phimose, der entzündlichen Affektion von Vorhaut und Eichel und damit des Peniskarzinoms; damit zugleich vermindertes Risiko der Frau, durch Geschlechtsverkehr an einem Zervixkarzinom zu erkranken. (Vgl. u. a. Klein et al., 1996) Außerdem soll – statistisch gesehen – die Gefahr der Infektion durch Geschlechtskrankheiten vermindert werden. Auf die Problematik, wie dieser Befund zu interpretieren ist, hat bereits Preuss (1911, S. 642 f.) hingewiesen. Neueste Studien halten es für erwiesen, daß das Infektionsrisiko für Aids durch Beschneidung deutlich gesenkt werden kann.

(4) Während die soeben genannten Bereiche (Speisegesetze, Ritualbäder und Beschneidung) heute im allgemeinen als hygienische Errungenschaften des Judentums und gewissermaßen als potentielle Leitbilder der Medizin eingeschätzt werden, ist der vierte Bereich, dem meines Erachtens im Kontext von Paracelsismus und Alchimie eine wissenschaftshistorisch entscheidende Rolle zukommt, weithin vergessen: nämlich das Gebet, die Anrufung Gottes, die Segenssprüche zur Abwendung von Unheil und zur Heilung von Krankheit. Merkwürdigerweise hat die Psychotherapie- bzw. Psychiatriegeschichtsschreibung – im Gegensatz zur Geschichtsschreibung der Hygiene – die entsprechende jüdische Tradition und deren Bedeutung außer acht gelassen. Gerade die Kabbala, die im allgemeinen als „jüdische Mystik“ im Gegensatz zur Aufklärung (Haskala) begriffen wird, kann durchaus auch als „magische Kunst“, als Teil einer magischen Medizin im Sinne des Paracelsus verstanden werden. Gerade Paracelsus hat häufig auf die „edel kunst cabalistica“ verwiesen – als Analogon zur eigenen alchimistisch-magischen Heilkunde. (Vgl. Schott, 1998, S. 286 ff.) In diesem Kontext ergeben sich faszinierende Berührungspunkte zwischen jüdischer Tradition und magischer Medizin bzw. Psychotherapiegeschichte, die gerade auch jenen jüdischen Medizinhistorikern entgingen, die wie Julius Preuss, ihre kultur- und medizinhistorischen Studien im Geiste der modernen (d. h. naturwissenschaftlichen) Medizin betrieben.

Doch wenden wir uns nun den antisemitischen Konstruktionen zu, die, wie wir wissen, die blutigsten Folgen hatten. Ich möchte hier den Begriff des Stigma, des Stigmatisierens verwenden, um den entwürdigenden, gewalttätigen und blutigen Charakter dieser Konstruktionen hervorzuheben.

Antisemitische Konstruktionen: die Stigmatisierung des Jüdischen

 Der Begriff des Stigma kommt aus dem Griechischen (stígma) und bedeutet ursprünglich Stich, Brandmal, Kennzeichen, Wundmal. Das entsprechende Verb stízein bedeutet „stechen, tätowieren, brandmarken“ und ist mit den deutschen Wörtern „Stich“ und „stechen“ verwandt. Ab dem 17. Jahrhundert wurde „Stigma“ ins Deutsche übernommen und bedeutete entweder das sog. Brandmal, das schon in der klassischen Antike den Sklaven oder in selteneren Fällen den Freien für ihr Verbrechen eingebrannt wurde, oder „eines der fünf Wundmale Christi“. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutet Stigma in der Medizin Krankheitszeichen, seit dessen zweiter Hälfte bedeutet es im übertragenen Sinne „Kennzeichen“, „Schandmal“. Im 16. Jahrhundert heißt stigmatisieren im Deutschen „mit den fünf Wundmalen Christi zeichnen“, im 18. Jahrhundert aus rituellen Gründen „Wundmale beibringen“ und am dem 19. Jahrhundert „verleumden, kennzeichnen“. Seit dem 19. Jahrhundert nennt man Stigmatisierte jene charismatische Personen, die Grund religiöser Ekstase „mit Wundmalen wie der gekreuzigte Christus behaftet“ (Etymologisches Wörterbuch, S. 1363) Bis heute hat sich in der medizinischen Terminologie der Begriff Stigma bzw. Stigmatisation noch punktuell erhalten: als Kennzeichen einer bestimmten Krankheit,  z. B. der neurovegetative Dystonie, der Hysterie oder einer bestimmten beruflichen Beanspruchung (Berufsstigma).

Wenn ein Kranker bestimmte Stigmata aufweist, von der Krankheit mit bestimmten Symptomen gezeichnet ist, so ermöglicht dies dem kundigen Arzt, sich ein Krankheitsbild zu machen und eine entsprechende Diagnose zu stellen. Hier spielt die naturphilosophische Tradition der Signaturenlehre eine wegweisende Rolle, wonach die Natur ihre geheimen Intentionen äußerlich in den Naturdingen einzeichnet, sowohl die Zeichen der Krankheit (z. B. in der astrologischen Konstellation), als auch die Zeichen der Heilkraft  (z. B. in der Form und Farbe eines Heilkrautes). Insofern erscheint das Stigma als Signatur, als Naturzeichen, gewissermaßen als Konstruktion der Natur oder gar Gottes, die der Arzt oder Naturforscher zu rekonstruieren, nachzuvollziehen hat. So lautete die Leitidee frühneuzeitlicher Naturforschung: „Lesen in der Bibel der Natur“. Die „Lesbarkeit der Welt“ (Blumenberg) stand auf der Tagesordnung.

Der Antisemitismus in der Medizin der Neuzeit erblickte bei den Juden Stigmata, die mit Krankheitsbildern in Beziehung gesetzt wurden. Aber ebensowenig, wie es den Exorzisten oder Inquisitoren in den Sinn kam, daß sie im wesentlichen selbst den Teufel induzierten, um ihn dann zu auszutreiben oder mitsamt dem beschuldigen Menschen zu vernichten, kam es den späteren Erbärzten, Rassenhygieniern und Anthropologen in den Sinn, daß sie im wesentlichen selbst jene biologische Degeneration konstruierten und somit jene Untergangsangst hervorriefen, welche den absoluten Rassenwahn ermöglichten. Mit anderen Worten: Die vermeintlichen Stigmata der Natur entpuppten sich im Nachhinein als Stigmatisierungen aus ideologischer Verblendung.

(1) Häßlichkeit: die Stigmatisierung des jüdischen Körpers

Die Gestalt des Jude erscheint in der europäischen Kulturgeschichte als häßlich und abstoßend. Insbesondere die Physiognomie spielte eine wichtige Rolle. Johann Kaspar Lavater hatte behauptet, daß die „Schönheit und Entstelltheit des Antlitzes in angemessenem und determeiniertem Verhälntis zur moralischen Schönheit und Entstelltheit des Menschen steht“. (Zit. n. Gilman, 1998, S. 59) Dadurch werde, wie Gilman hervorhob, der Kranke nicht nur zum Häßlichen, sondern auch der Häßliche zum Kranken gestempelt. So wurden in Literatur und Kunst – man denke an Wilhelm Buschs einschlägige Karikatur („krumm die Nase, krumm der Stock“) – die Stigmata des Jüdischen entfaltet, lange bevor Rassenanthropologen „fleischige Ohrläppchen“ „große, roten Ohren“ und häßlich gebogene „jüdische Nasen“ diagnostizierten. Die kosmetische Chirurgie wurde bereits am fin de siècle zu einer ärztlichen Behandlungsmethode, um bestimmte „Patienten“ von ihrem jüdischen Stigma zu befreien. So berichtete der deutsch-jüdischen Chirurg Jacques Joseph 1898 über eine solche Nasenoperation vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft: „Der psychologtische Effekt der Operation ist von höchster Bedeutung. Die depressive Einstellung des Patienten hat sich vollkommen gelegt. Er ist darüber glücklich, sich unbemerkt bewegen zu können.“ (Zit. n. Gilman, 1998, S. 64)

Die Stigmatisierung des jüdischen Körpers implizierte zugleich eine Stigmatisierung der jüdischen „Rassenseele“, der wir uns später zuwenden wollen. Es sei daran erinnert, daß noch um 1900 mißgebildeten bzw. verkrüppelten Menschen sehr häufig auch eine häßliche, verkrüppelte Seele unterstellt wurde, was selbstverständlich den Grundsätzen der heutigen Behindertenpsychologie widerspricht. Die „Krüppelseele“ bzw. „Krüppelseelenkunde“ waren gängige Ausdrücke, der insbesondere durch die Arbeiten von H. Würtz in den 1920er und 1930er Jahren geprägt wurden. (Vgl. Schott, 1974, S. 186 ff.) Selbst wenn Menschen körperlich keinen Buckel hatten, so konnten sie doch einen unsichtbaren „seelischen Buckel“, d. h. eine seelische Mißbildung oder Bösartigkeit aufweisen, die dann metaphorisch in unsichtbare körperlichen Stigmen projiziert wurden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die psychologisch-mentale Stigmatisierung der Behinderten und „rassisch Minderwertigen“ gemäß der wirkungsmächtigen physiognomischen Tradition allgemein üblich und stellte das Raster für die besondere Stigmatisierung der Juden bereit.

Der berühmte Frankfurter Erbbiologe und Rassenhygieniker Otmar von Verschuer, der nach dem Krieg bis 1955 einen Lehrstuhl an der Universität Münster innehatte, zählte die „körperlichen Erbmerkmale“ der europäischen Juden im Unterschied zu „von unserem deutschen Volk“ auf, ein Panoptikum der Stigmata, die ich hier nur bruchstückhaft wiedergeben kann: „Die mittlere Körpergröße der Juden liegt um etwa 5-9 cm unter derjenigen deutscher Vergleichsgruppen. Die Geschlechtsreife tritt früher ein. … Muskulatur und Bindegewebe zeigen eine Schlaffheit. Als Folge davon beobachtet man flachen Brustkorb, runden Rücken, schlechte Körperhaltung und besonders Plattfüße. Die Lippen sind häufig fleischig, oft wulstig. Vor allem fällt die vorhängende Unterlippe auf. Die „Judennase“ ist dadurch gekennzeichnet, daß die Nasenspitze hakenförmig nach unten gebogen ist und die Nasenflügel aufwärts gezogen sind. … Der Knorpel der Nasenspitze ist ziemlich stark. … Die Haut ist oft wenig durchblutet und von hellgelblich-matter Farbe, die im Verhältnis zur dunklen Haarfarbe oft besonders helle erscheint. Die Behaarung des Kopfes und des Körpers sind oft besonders stark. Die Juden sind auch an ihren Bewegungen und Gebärden zu erkennen.“ In Bezug auf die „pathologischen Erscheinungen bei den Juden“ heißt es u. a.: „Nerven- und Geisteskrankheiten sind häufiger. … In den Befunden der Psychosen zeigen sich Beziehungen zu den normalen Wesenseigentümlichkeiten der Juden: Arztbedürftigkeit, Ängstlichkeit, mangelhafte Körpertüchtigkeit, Einstellung auf Gewinn, Phantasiemangel, Vorliebe für Extreme, übertriebene Ausdrucksbewegungen, Fehlen von Versündigungsideen.“ (Verschuer, 1941, S. 127)

Der aggressiv-vernichtende Antisemitismus lebte noch Jahrzehnte nach Ende des Nationalsozialismus in Deutschland weiter, wie ich als Medizinstudent selbst erfahren habe. Ich erinnere mich meiner denkwürdigen Physikumsprüfung in Anatomie im Jahr 1968 in Heidelberg. Der Anatomieprofessor fragte uns allen Ernstes: „Woran können Sie ab welchem Monat einen Judenembryo von einem normalen deutschen unterscheiden?“ Uns Studenten hatte es die Sprache verschlagen, eine Antwort fiel uns nicht ein. Triumphierend sagte der Professor: „Am Nasenknorpel, ab dem dritten Monat, das ist wissenschaftlich bewiesen.“ Er suchte in seinem Buchregal nach der entsprechenden Literatur, ohne sie zu finden. „Sie erkennen den Juden an seinen raffinierten, betrügerischen Handbewegungen, ich habe kürzlich einen hochintelligenten Juden mit einer „Eins“ aus dem Physikum geworfen, weil er unverschämt wurde und betrügen wollte.“ „Aber Herr Professor“, sagte ich, „man sagt, daß doch auch die Italiener wild gestikulieren und betrügen.“ „Mein lieber Herr Kommilitone!“ lautete die Antwort, „die Italiener machen es aus Spaß, den Juden ist es aber angeboren.“

(2) Unreinheit: die Stigmatisierung des „jüdischen Blutes“

In ihren „Psychohistorischen Notizen zur Blureinigung im Zeitalter der Aufklärung“ hat Dietlinde Goltz (1990) auf die entscheidende Wende in der langen geschichte der traditionellen Humoralpathologie hingewiesen. Von den vier Kardinalsäften Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim war im 18. Jahrhundert als einziger das Blut übrig geblieben. Die Krankheiten wurden mit Verunreinigungen des Blutes durch sog. Schärfen (acrimoniae) erklärt, die unverzüglich durch verschiedene therapeutischen Methoden zu entfernen waren. Vor allem die Blutstockungen des Unterleibes galten als Hauptursache vieler Krankheiten im Sinne der „Hypochondrie“ und „Melancholie“. Der Magen-Darm-Trakt mit seinen aus der Nahrung stammenden Fäulnisstoffen trag seinerseits zu den Verunreinigungen des Blutes bei. Es war gerade gerade für pietistisch beeinflußte Ärzte naheliegend, dieses somatische Konzept psychisch zu erweitern. Nach ihrer Auffassung schien sich die Sünde als seelische Unreinheit in den Unreinheiten des Körpers manifestieren zu können.

Zwar galten die Juden im aufgeklärten Absolutismus durchaus als „unreines unglükliches Volk“, als „unreinste Menschen“ (Frank, 1804, S. 878). Dies wurde aber nicht primär auf ihr ererbtes jüdisches Blut zurückgeführt, sondern auf ihre widrigen und ungesunden Lebensverhältnisse in den engen schmutzigen Judengassen. Erst die rassenbiologische Fixierung der Juden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte jene verhängnisvolle Stigmatisierung, deren letzte Konsequenz die Ausgrenzung und Vernichtung der unliebsamen Rasse darstellte. Das Blut wurde nun zum Symbol für die Qualität der Rasse. Das „jüdische Blut“ galt als unrein, von ihm drohte den Deutschen, den Ariern, eine finale Blutvergiftung.

Gobineau war der erste, der in seinem „Essai sur l’inégalité des races humaines“ von 1853 von der rassischen Überlegenheit „der weißen Menschheit und in ihr der arischen Rasse, besonders derem germanischen Zweig“ sprach. (Zit. n. Becker, T. 2, 1990, S.19) Er gab dem Antisemitismus Auftrieb, indem er in seinem späteren Werk „Éthnographie“ den Antagonismus zwischen dem Germanischen und dem Jüdischen herausstellte. Der deutsche Gobineau-Verehrer Ludwig Schemann versuchte, den „Blutstrom der Juden nach seiner historischen Entwicklung“ auf folgende Formel zu bringen: „Das jüdische Volk hat nach ausgiebigster Vermischung innerhalb der drei großen Rassen der Völkertafel … mit jähem Ruck sich auf das Prinzip der Inzuchtgeworfen und dann die durch jene Mischungen errungenen Eigenschaften und Kräfte mit einer Zähigkeit festgehalten, welche ihm, wie sie im Völkerleben einzig dasteht, so auch eine einzigartige Stellung darin gesichert.“ (Schemann, 1930, S. 50) Rassenvermischung und Inzucht werden nun als Charakteristikum des Judentums ausgemacht. (S.51) Und da die Legitimierung der Einheit immer durch das Blut geschehe, habe bei der Zerstörung ihres Staates die „Gliederung durch das Blut“ diesen ersetzt: „eine Art Volksgemeinschaft blieb bestehen.“ (S.52) Die Juden hätten nun das religiös gefestigte Inzuchtprinzip auf eine „geistige Basis“ gestellt. (S.53) Die größte aller Gefahren für die abendländische Völker drohe vom „jüdischen Blut“, dem eine „Durchschlagskraft ohne gleichen“ zukomme und der eigenen Rasse „ein Urfremdes“ zuführe. (Zit. n. Becker, T. 2, 1990, S. 113. f.)

Oft wird beim heutigen Diskurs über Biologismus und Rassenhygiene vergessen, daß sich der nationalsozialistische Blut- und Boden-Mythos insbesondere auf die Naturmystik und das nationale, gegen Frankreich gerichtete Pathos der deutschen Romantiker stützte. So berief man sich z. B. auf Ernst Moritz Arndt als Gewährsmann. Die 1934 im Inselverlag erschienene Schrift „Das ewige Volk“  – unter diesem Titel existiert freilich kein Originalwerk aus seiner Feder! –  stellt eine wüste Klitterung von Arndt-Zitaten dar. Dort lesen wir: „Wann die Erde mit ihren freundlichen und spielenden und lieblich und fürchterlich dunklen Kräften, wann alle elementarischen Mittelgeister durch lange Zeugungen oder durch Unglück des Schicksals aus einem Volke ausgelaugt und ausgeschöpft sind, dann bleiben nur die scharfen und salzigen Geister zurück, spröde, bittere, höhnische und listige Geister, welche wohl allerlei Dinge erlauschen und erkunden, aber, weil ihnen die Einfalt und der Glaube fehlt, den Zusammenhang und das Leben der Dinge nicht begreifen. Und also auch nichts weiter schaffen und bilden könne. So glaube ich nimmer, daß, wenn man die Juden, so viele ihrer sind, aus allen Teilen zusammenbrächte und ihnen ein bestimmtes Land eingäbe und zu ihnen sagte: Nun frisch! Richtet euch ein und macht euch wieder zu einem freien Volke und Staate! aus ihnen je noch ein tüchtiges und ordentliches Volk würde.“ (Arndt, 1934, S.41)

Bei den Juden war für Arndt sozusagen Hopfen und Malz verloren, denn „reines und gleiches Blut“ sei die Richtschnur: „Die Bastarde, die durch Vermischung des Ungleichen oder gar des Ungleichsten entspringen, mögen allerdings manche glänzende Eigenschaften zeigen, und sie zeigen es in der Tat sehr häufig …, aber das Harmonische, Sicher und Genialische, kurz, das Tüchtige und Bleibende wird aus ihnen nie hervorgehen.“ (Arndt, 1934, S. 41) Der Herausgeber der soeben zitierten Schrift merkte in seinem Nachwort an: „Arndt erkannte … mit seherischem Blick, daß den Deutschen nur noch durch die entschiedene Rückkehr zu den Mächten und Kräften der Erde und des Leibes (des „Bodens“ als und des „Blutes“) und durch die dementsprechende Umwertung der gesamten überlieferten Kulturwerte geholfen werden könne.“ (S. 67)

Im Nazi-Deutschland konnte man dann diese „Umwertung“ z. B. im Begleittext der in den gesetzlich vorgeschriebenen und erbärztlich überprüften Ahnentafeln unter der Überschrift „Dein Volk und Du!“ ablesen: „Der Strom des Blutes, der auch in Deinem Herzen pulsiert, floß bereits in der Zeit von Jahrhunderten vor Dir in den Adern Deiner Ahnen. Ihr seid eine Sippe, ein Stamm, eine Familie und so findest Du in Deiner eigenen Geschlechterreihe die gewaltige Erkenntnis, daß Du selbst ein Teil Deines Volkes bist, der art- und blutgebunden mit dem ewigen Mutterboden Deutschland verwachsen ist.“ (Aus der Ahnentafel meines eigenen Vaters)

(3) Psychopathie: die Stigmatisierung des jüdischen Nerven- und Seelenlebens

Die Juden schienen auffallend immun zu sein gegen große Volksseuchen wie Tuberkulose oder Geschlechtskrankheiten und auch von anderen Krankheiten, wie z. B. Krebs, weniger betroffen, wie zahlreiche Statistiken um 1900 belegten. Den Rassenbiologen blieb jedoch eine „Trumpfkarte“ (Jütte, 1998, S.137): die Anfälligkeit der Juden für Geistes- und Gemütskrankheiten. Diese wurde keineswegs nur von nichtjüdischen Autoren angenommen, sondern auch von jüdischen, wie z. B. Cesare Lombroso,  und Martin Engländer, der eindeutiger als Lombroso diese Anfälligkeit als Zeichen der Degeneration weniger auf rassische als vielmehr auf soziale Ursachen zurückführte: nämlich die neurasthenische Zerrüttung des Nervensystems im urbanen Milieu. (Vgl. Gilman, 1993, S. 101) In diesem Sinne hatte Freud 1886 an seine Schwester geschrieben, daß er im Familienkreis irritierte und angespannte Nerven beobachte, die das Erbe einer alten zivilisierten Rasse und des Stadtlebens seien. (Vgl. Gilman, 1993, S. 93)

Die „psychopathische Minderwertigkeit“ der Juden sei die Ursache für die Prädisposition für Nerven- bzw. Geisteskrankheiten, wie der Anthropologe und Psychiater Georg Buschan feststellte. Ihre rassische Degeneration sei Ursache für ein außerordentlich häufiges Vorkommen der Hysterie unter ihnen. (Vgl. Gilman, 1993, S. 94) An der besonderen Psychopathologie der Juden bestanden im „nervösen Zeitalter“, wo die Hysterie und Neurasthenie Konjunktur hatten, keine Zweifel. So meinte der berühmte Neurologe Jean-Martin Charcot, daß bei Juden Nervenkrankheiten aller Art häufiger aufträten als bei anderen Bevölkerungsgruppen, und zwar als Folge der Inzucht der Juden. Der deutsche Psychiater Richard Krafft-Ebing benutzte den Terminus „Neurastheniier“ sogar synonym mit „Jude“ und behauptete, daß der religiöse Enthusiasmus gerade der Ostjuden zu einer gestiegerten Sinnlichkeit, sexuellen Exzessen und somit zu psychischen Erkrankungen führe.

Der berühmte Psychiater Cesare Lombroso stellte die besondere Anfälligkeit der Juden für Geisteskrankheiten mit seiner speziellen Argumentation heraus. In seinem berühmten Werk „Genie und Irrsinn“, das erstmals 1864 erschien,  behauptete er eine Verwandtschaft der „Physiologie des Genies mit dem Wahnsinn“. Im Kapitel über den „Einfluß der Rasse und Familie auf Genie und Irrsinn“ stellte er die überragende Kulturleistung vieler namhafter Juden heraus, um diesen allgemein bekannten Befund mit der „sonderbaren“ Tatsache zu konfrontieren. „daß eben die Juden ein verhältnismäßig vier- bis sechsmal größere Anzahl Geisteskranker liefern als ihre andersgläubigen Mitbürger“, was er – in späteren Auflagen seines Buches – mit statistischen Zahlen belegt. (Lombroso, 1887, S. 70 f.) Er bedauert dieses „unglückliche Volk“, das dem Einfluß seiner Rasse ausgeliefert sei, „wo die Quelle seines Ruhms auch die seines Unglücks ist“. Denn der „Einfluß der Rasse macht sich sowohl auf den Genius wie auf den Irrsinn geltend.“ (S. 71 f.) Lombrosos  rassenbiologische Erklärung der Genialität der Juden konnte in den Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung ohne Schwierigkeiten ebenso eingefügt werden, wie seine Theorie vom „angeborenen Verbrecher“, die in der Erbbiologie unter der Herrschaft des Nationalsozialismus zu großer Popularität gelangte.

Nach Ende des Nationalsozialismus war Lombrosos Erklärungsmodell der geistigen Höchstleistungen überpropertional vieler Juden hinfällig, die rassebiologischen Konstruktionen wurden von sozialpsychologischen abgelöst. So fand z. B. der auffallend hohe Anteil von jüdischen Gelehrten gerade in den Bereichen der  Naturwissenschaftlern und Medizin vor allem zwei Erklärungen: (1) Das traditionelle Gelehrtentum im Sinne der Talmudstudien schien zum wissenschaftlichen Arbeiten zu prädisponieren; (2) durch die soziale Randständigkeit seien die Juden zu einer „kreativen Skepsis“ gelangt, gemäß dem Freudschen Briefzitat: „Weil ich Jude war, fand ich mich frei von Vorurteilen.  …  Als Jude war ich darauf vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ‚kompakten Mehrheit‘ zu verzichten.“ (Zit. n. Vokov, 1990, S. 151) Gerade die letztere Annahme widerspricht jedoch der Tatsache, daß die betreffenden Wissenschaftler sich als „Teil ihrer nationalen wissenschaftliche Gemeinschaft fühlten“ und „intellektuelle Aufsässigkeit“ keineswegs eine Voraussetzung des wissenschaftlichen Erfolgs sein muß.“ (S. 151 f.) Der hohe Prozentsatz jüdischer Wissenschaftler um 1900, die durchweg aus begütertem Hause stammten, wurde mit der „Hoffnung auf völlige Assimilation“ erklärt. Die Wissenschaft schien eine Gemeinschaft ohne Schranken zu versprechen, auf dem jenseits rassischer oder religiöser Unterschiede nur die Leistung zählte. (S. 155)

(4) Parasitäre Existenz: die Stigmatisierung des  jüdischen Soziallebens 

Die Juden wurden als seit dem Mittelalter als soziale Schädlinge, Parasiten, die ihre Wirtsvölker aussaugen, als Vergifter gebrandmarkt. Mit Ausbruch des Schwarzen Todes 1347/48 in Europa und den anschließenden Pestzügen, denen mehr als ein Drittel der europäischen Bevölkerung zum Opfer fielen, kam es zu massenhaften Judenverfolgungen. Den Juden wurde vorgeworfen, wie hätten die Brunnen vergiftet und damit die Ausbreitung der Pest verursacht. Auch ihr Handel mit alten Kleidern wurde in dieser Weise gedeutet.

Ein Chronist beschreibt die Ausschreitungen in Straßburg im Jahr 1362 folgendermaßen: „Am Freitag fing man die Juden, am Samstag verbrannte man die Juden, deren schätzungsweise wohl gegen zweitausend. Die sich aber wollten lassen taufen, die ließ man leben. Es wurden auch gegen ihrer Mütter und ihrer Väter Willen viel junge Kinder aus dem Feuer genommen, die getauft wurden. Was man den Juden schuldig war, das war alles wett, und wurden alle Schuldpfänder und Schuldbriefe, die sie hatten, zurückgegeben. Das bare Geld, das sie hatten, das nahm der Rat und teilte es unter die Handwerke nach Mehrzahl. Das war auch das Gift, das die Juden tötete.“ (Zit. n. Battenberg, Bd. 1, 1990, S. 121) Diese Sündenbockrolle der Juden hatte im 13. und frühen 14. Jahrhundert ihre blutigen Vorläufer: Wer Ritualmorde beging, braven Christenmenschen buchstäblich das Blut aussaugte und Hostien schändete, kam auch als Verursacher der Pest in Frage.

Es entspricht der traditionellen rhetorischen Technik, seinen Feind dadurch herabzusetzen und verächtlich zu machen, indem man ihn mit einem Tier vergleicht. Überwiegend wurden die Juden mit Parasiten und Ungeziefer verglichen, mit Krankheitsüberträgern, die sich am Menschen festhaken oder –saugen und die der vernünftige Mensch schon aus Selbstschutz zu vernichten trachtet: „Flöhe“, „Läuse“, „Zecken“ boten sich für die Vernichtungsmetaphorik besonders an. So formulierte der deutsche Orientalist Paul de Lagarde, den Ludwig Schemann (1931, S.371) als „unseren deutschesten Deutschdenker“ bezeichnete: „Es gehört ein Herz von der Härte einer Krokodilhaut dazu, um mit den armen, ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfinden, und – was dasselbe ist – um die Juden nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen und zu verachten, die – aus Humanität! – diesen Juden das Wort reden, oder die zu feige sind, dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten.“ (Zit n. Becker, T. 2, 1990, S. 77) Solche Redeweise, die sich übrigens erst im Zeitalter der modernen Bakteriologie und Hygiene entfaltete, sollte Jahrzehnte später im Nationalsozialismus ihre schreckliche Hochkonjunktur erlangen – gemäß dem kolportierten Ausspruch des Reichspropagandaministers Josef Goebbels, der die Feststellung, der Jude sei schließlich auch ein Mensch, mit der metaphorischen Wendung in Abrede stellte: „Der Floh ist auch ein Tier!“ (Mündliche Mitteilung meines Schwiegervaters)

(5) Giftige Machtgier: die Stigmatisierung der jüdischen „Rassenseele“

Die psychologische Raffinesse, mentale Giftigkeit und kriminelle Hinterhältigkeit, die auf die Weltherrschaft abzielten, spiegelten gewissermaßen die geistige Monstrosität des häßlichen jüdischen Insektenkörpers wider. Die charakterlichen Stigmen der „jüdischen Seele“, Hab- und Machtgier, erscheinen mir als das wichtigste Konstrukt des Antisemitismus. Es weist wahrscheinlich die längste Tradition auf und läßt sich beispielhaft an der Jahrhunderte langen Polemik gegen die jüdischen Ärzte aufzeigen. Trotz kirchlicher und obrigkeitlicher Vorbehalte genossen die jüdischen Ärzte im Mittelalter einen guten Ruf. (Kümmel, 1998, S. 33) In der frühen Neuzeit kommt es zu Polemiken gegen die „Judenärzte“, die aus Eigennutz handelt, Lügner und Betrüger seien, Vorwürfe, die man auch in den Schriften des Paracelsus finden kann. (S. 35; vgl. Benzenhöfer u. Finsterbusch, 1997) Die jüdischen Ärzte seien jedoch in der Hauptsache nicht aus medizinischen Gründen angegriffen worden, sondern als Juden mit deren vermeintlichen Merkmalen: „Unglaube und Gottlosigkeit, Habiger und Betrügerei, Hochmut und Haß gegen die Christen bis hin zum Mord an ihnen.“ (Kümmel, 1998, S. 36) Auch im Hinblick auf das 20. Jahrhundert solle man „statt von medizinischem Antisemtiismus besser von Antisemitismus in der Medizin sprechen“ (S. 40): Hier wurden die jüdischen Ärzte nun nicht mehr als Quacksalber und Betrüger, sondern in erster Linie als Vertreter eines„volksfremden Denkens“ und einer kalten, analytischen, Wissenschaftlichkeit angeprangert. Im Hintergrund lauerte immer der Verdacht der Zersetzung des „gesunden Volksempfindens“, der gleichsam pestilenzialischen der braven völkischen Seele.

Gustave Le Bon, der Begründer der modernen Massenpsychologie, behauptete: „Die Rassenseele [als ererbte geistige Konstitution in der Gefühls- und Denkweise der Menschen] beherrscht … völlig die Massenseele. Sie ist der mächtige Grundstoff, der die Schwankungen der die Schwankungen der Massenseele bestimmt.“ (Le Bon. 1895, S. 116) Die Stigmatisierung der jüdischen „Rassenseele“ stellte, wie gesagt, wahrscheinlich das mächtigste Konstrukt des modernen Antisemitismus dar, der hier auf dem religiösen Antijudaismus aufbaute.

So hatte der namhafte Theologe August Rohling, der seit 1876  den Lehrstuhl für Altes Testament in Prag innehatte, in einem gerichtlichen Gutachten festgehalten, „daß der jude von Religions wegen befugt ist, alle Nichtjuden auf jede Weise auszubeuten, sie physisch und moralisch zu vernichten, Leben, Ehre und Eigenthum derselben zu verderben, offen und mit Gewalt, wie heimlich und meuchlings …, damit er sein Volk zur irdischen Weltherrschaft bringe.“ (Zit. n. Battenberg, Bd. 2, 1990, S.178) Der Journalist Otto Glogau, der 1880 die Zeitschrift „Der Kulturkämpfer“ gründete, formulierte in seinem Buch „Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin“: „Sie [die Juden] schieben uns beiseite, sie drücken uns an die Wand, sie benehmen uns die Luft und den Atem. Sie führen thatsächlich die Herrschaft über uns; sie besitzen eine gefährliche Übermacht uns übe einen höchst unheilvollen Einfluß.  … Die ganze Weltgeschichte kennt kein zweites Beispiel, daß ein heimatloses Volk, eine physisch wie psychisch entschieden degenerierte Race, blos durch List und Schlauheit, durch Wucher und Schacher über den Erdkreis gebietet.“ (Zit. n. Battenberg, Bd. 2, 1990, S. 183)

Friedrich Nietzsche, der von den Nationalsozialisten als der philosophische Gewährsmann ihres Führerkultes und Rassenwahns in Dienst genommen wurde, lieferte mit seiner luziden Streitschrift „Zur Genealogie der Moral“ von 1887, welche die Freudsche Selbst- und Psychoanalyse ein Jahrzehnt später im innersten Kern vorausgeahnt hat, der späteren Nazi-Ideologie ungewollt Munition. Mit den Juden beginnt nach seiner Darstellung zwar „der Sklavenaufstand in der Moral“, bei den Christen aber findet er seinen unübersteigbaren Gipfel: „Die Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal-Gottes, der bisher erricht worden ist, hat deshalb auch das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht.“ (Nietzsche, 1887, S. 122).

Aus dem Gegensatz von Herrenmoral und Sklavenmoral, Kriegerkaste und Priesterkaste leitet Nietzsche jene ungeheure Macht des Krankmachenden, des Bösen ab: „Die Priester sind, wie bekannt, die bösesten Feinde – weshalb doch? Weil sie die ohnmächtigsten sind. Aus der Ohmmacht wächst bei ihnen der Haß ins Ungeheure und Unheimliche, ins Geistigste und Giftigste. Die ganz großen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser … Alles, was auf Erden gegen „die Vornehmen“, „die Gewaltigen“, „die Herren“, „die Machthaber“ getan worden ist, ist nicht der Rede wert im Vergleich mit dem, was die Juden gegen sie getan haben die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwertung von deren Werten, also durch einen Akt der geistigsten Rache Genugtuung verschaffen konnte.“ (S. 289) Dieses Ressentiment, das „Giftauge des Ressentiments“, ist deshalb so furchtbar, weil er das Gut, Vornehme, Herrschende als „böse“ umwertet. (S. 267) Nietzsche argumentiert hier psychohistorisch, ja, tiefenpsychologisch, wenn er das jüdisch-christliche Seelenleben als physiologisch gehemmt und insofern krank darstellt. Gleichwohl lieferte er dem aggressiven Antisemitismus mit seiner psychologischen Stigmatisierung der Juden mitsamt den Christen („asketische Priester“) als giftige und alles beherrschende Hasser eine Speerspitze.

Der Gobineau-Adept Ludwig Schemann versuchte, die geistesgeschichtliche Bedeutung des Judentums, die es an das Christentum abgeben habe, strikt von der „materiell-weltgeschichtlichen“ abzugrenzen: die „Herrschafts- und Habgier der Juden“ sei übrig geblieben, sie begründeten ihre Weltherrschaft auf „rein Materielles …, das die germanische Sage mit einem Fluch belegt hat.“ (Schemann, 1931, S. 32) Er fürchtet die „Judenherrschaft“, die „Keime der Zersetzung“, die durch eine „Aufsaugen der Juden … in unseren seelischen Organismus eingeführt würden.“ (S. 33)

In dieser Perspektive argumentierte Walter Jaensch, der eine spezifisch nationalsozialsitische Konstitutsionlehre in formaler Anlehnung an Ernst Kretschmer begründen wollte. Er konstruierte einen „Gegentypus der deutschen völkischen Bewegung“, den „lytischen Typus“ oder „Auflösungstyp“, den er hinter dem „Bündnis französischer Machtentfaltung mit dem internationalen Judentum“ vermutete. Hier kommt die ganze Intellektuellen- und Wissenschaftsfeindlichkeit, der dumpfe Appell an den gesunden Menschenverstand der Nazi-Ideologie zum Ausdruck. Es sei diesem Typus zu verdanken,  „daß der natürliche, in seinen eigenen biologischen Bedingungen von Blut und Boden mit seinem körperlichen und geistigen Sein und auch mit seinem natürlichen Verstand verwurzelte Mensch es nicht meh versteht, wenn die aus solchen erdachten Systemen entstandenen Mächte – wie Technik, Imperialismus, Weltkapitalismus und die Gehirnakrobatik … – schließlich die Menschheit in ihren natürlichen und biologischen Lebensbedingungen in die Irre führten und niederhalten.“ (Jaensch, 1934, S. 40 f.)

Die Angst vor der jüdischen Weltverschwörung und der Vernichtung des eigenen Volkes stellte ein wichtiges Moment für den aggressiven Antisemitismus dar, der gegen „Technik, Imperialismus, Weltkapitalismus und die Gehirnakrobatik“ zu Felde ziehen wollte, die „schließlich die Menschheit in ihren natürlichen und biologischen Lebensbedingungen in die Irre führten und niederhalten.“ (Jaensch, 1934, S. 40 f.)

Der westliche Kapitalismus und der bolschewistische Kommunismus erschienen gleichermaßen als Ausgeburten jüdischer Weltherrschaftspläne. Insofern führten die Nazis gegen das Judentum einen zweifachen Vernichtungsfeldzug: gegen den jüdischen Geldjuden und Bankier auf der einen und den jüdisch-bolschwistischen Kommisar auf der anderen Seite.Doch handelte es sich hierbei nicht um soziologische Zuschreibungen, sondern um rassenbiologische Invarianten: anthropologisch meßbar, fotografisch fixierbar, abstammungsurkundlich dokumentierbar und deshalb auch greifbar für die Vernichtung, wie z. B. die Sammlung der Schädel ermorderter „jüdisch-bolschewistischer Untermenschen“ im Straßburger Anatomischen Institut bezeugt.

Die Gefahr der rassischen Überfremdung schien garade dann zu wachsen,  wenn die körperlichen Merkmale verdeckt waren. So schrieb Tehodor Mollison, der Direktor des Anthropologischen Instituts in München, es gebe Menschen, und das ist das Bedenkliche, … deren jüdische Herkunft nicht mehr nachweisbar ist, und die doch die Züge des Juden ausgesprochen tragen. Gerade die Mischlinge aber sind es, die orientalische Gesinnung und orientalisches Empfinden in unser Volk hineintragen.“ (Mollison, 1934, S. 47).

Das „Blutschutzgesetz“ der Nazis zog die „Rassengrenze“ zwischen „Deutschtum und Judentum“ unerbittlich, wobei nicht die körperlichen, sondern die seelischen Erbeigenschaften die wichtigsten seien, wie ein Kommentator anmerkt:„Denn letzten Endes beruht die Judenfrage auf dem Gegensatz zwischen deutscher und jüdischer Rassenseele“, die dem „deutschen Wesen“ fast immer zuwiderlaufe. Deutsch-jüdische Mischehen produzierten auf Grund der „Unverträglichkeit deutschen und jüdischen Erbguts“ „innerlich zerrissene Menschen“. (Schäffer, 1938, S. 67)

Die „Judenfrage“: Lösungsvorschläge der Medizin

Zum Abschluß möchte ich die Lösungsvorschläge der Medizin zur sog. Judenfrage skizzenartig zusammenfassen. Ich unterscheide drei Ansätze: (a) sozialmedizinische Integration, (b) rassenhygienisches Parallelprogramm, (c) antisemitische Ausmerze.

(a) Sozialmedizinische Integration

Erst in der Aufklärung und unter dem Vorzeichen der Französischen Revolution konnte das Ziel der Judenemanzipation formuliert werden. Die „Judenfrage“ wurde dabei erstmals medikalisiert. Vorher gab es keine Lösungsvorschläge der Medizin, nichtjüdische Ärzte beschimpften allenfalls ihre jüdischen Konkurrenten als Betrüger, Scharlatane, Halsabschneider, ohne durchschlagenden Erfolg, wie wir wissen. (Kümmel, 1998).  Dies änderte sich nun schlagartig: Wie andersartig, unglücklich, ja abartig die Juden gerade in ihrem negativen Image erschienen, so sehr hielt man ihre glückliche Anpassung und Integration durch pädagogische und sozialmedizinische Maßnahmen für möglich. So kritisierte Johann Peter Frank, daß man das jüdische Volk „theils wegen seiner ursprünglichen Unreinlichkeit, theils aus unmenschlichem Hasse“ in den ungesundesten Gegenden angesiedelt habe. Die „Macht fauler Ausdünstungen“ vergrößere sich so, wenn dort die „unreinsten Menschen“ versammelt seien: „Entweder hätte also die Polizei sich des unreinen, unglücklichen Volkes mehr annehmen und demselben eine bessern Trieb zur Reinlichkeit beizubringen suchen sollen; oder sie hätte die Juden lieber, zu einzelnen Haushaltungen, unter christlichen Bürgern wohnen lassen mögen, um so immer das Auge auf sie zu haben, und jede Abweichung in der nöthigen Säuberlichkeit zu bestrafen.“ (Frank, 1804, S.878)

Die Judenemanzipation erschien auch den jüdischen Ärzten im Sinne der Haskala als einzige vernünftige Lösung, um den Juden eine gesunde Lebensweise zu ermöglichen. So empfahl etwa Elcan Isaac Wolf in seinem Buch „Von den Krankheiten der Juden“ (1777) vor allem diätetische Verbesserungen im jüdischen Alltagsleben, Genuß der reinen Landluft, gesunde Erziehung der Kinder, gute Nahrung und Kleidung. (Vgl. Kottek, 2000, S.12 ff.) Sozialmedizinische Maßnahmen sollten also die Juden vom Stigma der Unreinheit befreien.

(b) Rassenhygienisches Parallelprogramm

Im ausgehenden Kaiserreich und in der Weimarer Republik wurde die Idee der Judenemanzipation, d. h. einer gesellschaftlichen Integration der Juden zunehmend in Frage gestellt und Notwendigkeit einer Rassentrennung propagiert, wobei die Koexistenz von Juden und Deutschen weithin noch denkbar schien. Gleichzeitig erschien interessanterweise gerade den Rassenhygienikern die rituelle Hygiene der Juden vorbildlich. So meinte Karl August Lingner, der Initiator der Dresdner Hygiene-Ausstellung von 1911 und Begründer des 1930 eröffneten Hygiene-Museums mit der Hygiene der Juden zeigen zu können, welchen Einfluß eine solche sozialhygienische Gesetzgebung auf den Bestand eines Volkes ausüben könne: „dieser grandios organisierte Volksstamm“ stehe „dank seiner physischen Beschaffenheit und seiner strengen rassenhygienischen Gesetze heute noch in vollstem Glanze, in ungeschwächter Volkskraft da und – man mag denken darüber wie man will – nimmt an der Beherrschung der Welt kräftigen Anteil.“ (Zit. n. Nikolov, 1998, S. 48) Es ist höchst bemerkenswert, daß in diesem Diskurs über die Hygiene der Juden die Vorstellung kultiviert wurde, „daß der Gemeinschaftskörper der Juden wohldefinierte soziale und biologische Eigenschaften habe, … die den Modellen von Nation und Rasse folgten.“ In der Tat kam es hier zu einem ideologischen Schulterschluß zwischen Rassenhygienikern und Zionisten – jüdischen Ärzten, Rabbinern Statistiker und Pädagogen – , welche die rituelle Hygiene tendenziell als rassenhygienisches Regelwerk umdeuteten. (Vgl. Nikolov, 1998, S. 54)

Beispielhaft läßt sich dies an dem von jüdischen Autoren, darunter zahlreichen Rabbinern verfaßten Sammelschrift „Hygiene und Judentum“ (1930) ablesen. Hier begegnen wir einem glühenden Plädoyer für eine rassenbiologische Rettung der Juden: „Das ‚jüdische Leiden‘, das ist die anormale soziale Struktur des Judentums, das Fehlen einer großen ländlichen Schicht, die im Frieden mit der Natur lebt, mit starken Muskeln, mit standhaften Nerven mit gesunden Lungen und breiten, harten Händen ausgerüstet. Solange die Juden den Zufluß des belebenden, erfrischenden reineren Blutes ländlicher Bewohner entbehren, wird … diese unglückselige Rasse … weiter die Heilstätten für Irre, Epileptiker und Neurastheniker füllen …Die negativen Elemente, das sind die Lebensuntauglichen, … die physisch oder geistig verkommen sind.“

(c) Antisemitische Ausmerze

Die Juden erschienen in der Perspektive des aggressiven Antisemitismus, der im Nationalsozialismus kulminierte, als „Agenten der Zersetzung und Verwesung“, welche gemäß „Blutschutzgesetz“ von 1936 die „Reinheit des deutschen Blutes“ (Gütt u. a., 1936, S. 32) und damit die Einheit des deutschen Volkskörpers bedrohten. Die Metaphern Adolf Hitlers waren eindeutig: „rassische Zersetzung“, „Bastardisierung, „Blutvergiftung“, „jüdisches Gift, „jüdischer Tumor. (Vgl. Bohleber, 1998, S. 101) Dieser Reinheitsmythos wurde vom NS-Regime zu einem realisierbaren Ziel erklärt, er „bildete ein dynamisches Kraftfeld, das den Vernichtungsgedanken begünstigte.“ (S. 103) Das Motto ließ sich auf den Nenner bringen: Vernichtung des Ungeziefers nach dem seuchenhygienischen Vorbild der Entlausung und  Insektenvergasung. Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (Gütt u. a., 1936) war der erste Schritt auf dem Weg zum Massenmord an Juden, wie das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ der erste Schritt zum Massenmord an Kranken darstellte. Vor dem drohenden „Rassentod“ der Deutschen schien nur noch die „Ausmerze“ des „fremden Blutes“, der „bedingslos unerwünschten Rassen“, insbesondere der Juden, retten zu können (vgl. Schultze, 1934, S. 12;  Gütt, 1934, S. 117),  Otmar von Verschuer erklärte die „geschichtlichen Lösungsversuche der Judenfrage“ – Aufsaugung (Westgoten), Abschließung (5.- 19. Jh.) und  Emanzipation (19. Jh.) – als gescheitert, um eine „neue Gesamtlösung des Judenproblems“ zu fordern.(Verschuer, 1941, S. 127) Der Holocaust der  lag in der Luft.

Zwischen Selbstgleichschaltung und Vergangenheitsbewältigung

Die (Selbst)Gleichschaltung der deutschen Ärzteschaft nach der „Machtergreifung“ führte dazu, daß die jüdischen Ärztinnen und Ärzte gemäß der NS-Gesetzgebung nach und nach aus ihrem Berufsfeld gedrängt wurden, so daß z. B. die Mitgliederliste der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde 1938 „judenfrei“ war, wie dies Eduard Seidler  kürzlich ausführlich dargelegt hat (Seidler, 2000, S. 34). 1998 – genau 60 Jahre später ! – hat diese Gesellschaft schließlich ihr offizielles Bedauern in einer Gedenkstunde darüber zum Ausdruck gebracht, daß die „Mehrzahl der deutschen Kinderärztinnen und Kinderärzte jener Generation … die Zerstörung von über 700 jüdischen oder politische mißliebigen Kolleginnen und Kollegen widerstandslos geduldet [hat]“. (Vgl. S. 67) Analoges gilt für die anderen Bereich in Medizin und Gesundheitswesen, nicht zuletzt auch für die jüdische Krankenpflege, die sich im 19. Jahrhundert mit der Gründung von jüdischen Krankenhäusern und Fürsorgeeinrichtungen entfaltete: Ihr Verschwinden nach 1933 „aus allen öffentlichen Gremien und Publikationen wurde nicht kommentiert“. (Steppe, 1997, S. 315)

Ein Sonderfall stellt die Auflösung der Psychoanalyse in Deutschland und Österreich (Berlin und Wien), die Emigration der zumeist jüdischen Psychoanalytiker und die Adaptation des verbeibenden Restes an die nationalsozialistischen Rahmenbedingungen. (Vgl. Lockot, 1994) Als Skandalon erscheint – und erscheint bis heute – dabei das Verhalten C. G. Jungs, der sich „als ehemals leidenschaftlicher Parteigänger der Nationalsozialisten“ (G. R. Heyer) explizit antisemitisch über die Freudsche Psychoanalyse äußerte und nach Kriegsende die Kollektivschuld propagierte. (Vgl. S. 119) So formulierte Jung 1934: „Das arische Unbewußte hat ein höheres Potential als das jüdische; das ist der Vorteil und der Nachteil einer dem Barbarischen noch nicht völlig entfremdeten Jugendlichkeit.“ (Lockot, 1985, S. 94 f.) Jung war offenbar selbst von der „blonden Bestie“ als dem Archetyp, den er in Deutschland erwacht sieht, fasziniert und ergriffen. So formuliert er 1935: „Heute wird deutsche Geschichte gelebt, so wie der Faschismus lebendige italienische Geschichte ist. Wir können uns nicht wie Kinder dazu verhalten, intellektuelle und vernünftige Gedanken darüber haben und sagen: Es sollte nicht sein. … Faschismus und Hitlerismus … sind Archtypen, und so könnte man sagen: Gebt den Menschen einen Archetyp, und sie werden alle wie ein Mann vorwärtsstürmen; Widerstand ist ausgeschlossen.“ (Jung, 1935, S.171 f.)

Gedenkfeiern und Erklärungen sind seit ein paar Jahren an der Tagesordnung, nachdem solch kritisches bzw. selbstkritisches Gebaren Jahrzehntelang hierzulande stark verpönt war und den Kritikern der Verdrängung der NS-Zeit gerade in der Medizin herbes Ungemach bereitete. Der Wahnsinn des Antisemitismus, die Stigmatisierungen des Jüdischen, sind nach meiner Überzeugung solange nicht überwunden, solange wir – wenn auch mit den besten Absichten – von der  „jüdischen“ Kultur, den „jüdischen“ Ärzten und Wissenschaftlern sprechen, ohne uns bewußt zu werden, daß im nationalsozialistischen Deutschland mit dem Judentum deutsche Kultur vernichtet wurde. Solange die Bevölkerung in Deutschland nicht erkennt, daß die Vernichtung der Juden einer Selbstverstümmelung, einem kollektiven kulturellen Suizid gleichkommt, solange wird die sog. Vergangenheitsbewältigung den antisemitischen Wahn – möglicherweise philosemitisch gewendet – weiter transportieren. Denn bei alledem, was in deutschem Namen an Schrecklichem gegenüber sog. Juden passiert ist, ging und geht es letztlich nicht um die Frage von Judentum oder Deutschtum (oder Christentum) und deren Verhältnis zueinander, sondern um die Frage des Menschseins und der Mitmenschlichkeit.

Literatur

 Arndt, Ernst Moritz (1934): Die Ewigkeit des Volkes. Ausgewählt von Hans Kern. Jena: Diederichs, 1934 (Deutsche Reihe, Bd. 20).

Battenberg, Friedrich (1990): Das europäische Zeitalter der Juden. Zu Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas. Bd 1: Von den Anfängen bis 1650. Bd 2: Von 1650 bis 1945. Darsmtadt: Wiss. Buchges., 1990.

Becker, Peter Emil (1990): Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke. Wege ins Dritte Reich. Teil 2. Stuttgart; New York: Thieme, 1990.

Benzenhöfer, Udo u. Karin Finsterbusch (1997): Antijudaismus in den meizinisch-naturwissenschaftlichen und philosophischen Schriften des Paracelsus.. Sudhoffs Archiv 81 (1997), S. 129-138.

Bohleber, Werner (1998): Einheit, Reinheit und Gewalt. Zu den unbewußten Quellen antisemitischer Phantasmen. In: Medizin und Antisemitismus. Historische Aspekte des Antisemitismus in der Ärzteschaft. Mit Beiträgen von Alfred Möhrle … Münster: LIT, 1998 (Matzerialien aus dem Sigmund-Freud-Institut; 17).

Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarb. … unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. 2. Aufl., durchges- und erg. Von Wolfgang Pfeifer. Berlin: Akademie Verl., 1993.

Frank, Johann Peter (1804): System einer vollständigen medicinischen Polizei. 3. Bd. Neue Aufl. Mannheim: Schwan und Götz, 1804.

Gilman, Sander L. (1993): Freud, Race, and Gender. Princeton, N. J.: Princeton University Press, 1993.

Gilman, Sander L. (1998): „Die Rasse ist nicht schön“ – „Nein, wir Juden sind keine hübsche Rasse!“ Der schöne und der häßliche Jude. In: „Der scheijne Jid“… [wie Jütte, 1998], S. 57-74.

Goldenbogen, Nora, Susanne Hahn, Caris-Petra Heidel u. Albrecht Scholz (Hrsg) (1994): Medizin und Judentum. Vorträge auf der Gedächtnisveranstaltung in Dresden aus Anlaß des Novemberpgroms 1938. Dresden: Verein für regionale Geschicht und Politik Dresden, 1994.

Goltz, Dietlinde (1990): Blutreinigung im Zeitalter der Aufklärung. Medizinhistorisches Journal 25 (1990), S. 195-210.

Gottschaldt, Kurt (1939): Erbpsychologie der Elementarfunktion der Begabung. In: Erbbiologie und Erbpathologie nervöser und psychischer Zustände und Funktionen. Berlin: Springer, 1939 (Handbuch der Erbbiologie des Menschen; 5. Bd.), S. 445-537.

Gütt, Arthur (1934): Ausmerze und Lebensauslese in ihrer Bedeutung für Erbgesundheits- und Rassenpflege. In: Erblehre und Rassenhygiene im völkischen Staat. Hrsg. von Ernst Rüdin. München: Lehmann, 1934, S.  105-119.

Gütt, Arthur, Herbert Linden, Franz Maßfeller (1936): Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz. Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre und Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutsches Volkes nebst Durchführungsverordnungen sowie einschlägigen Bestimmungen. Dargestellt, medizinisch und juristisch erläutert von Arthur Gütt … München, Lehmann, 1936.

Hildebrandt, Wilhelm (1935): Rassenmischung und Krankheit. Ein Versuch. Bearbeitung des hinterlassenen Manuskripts von H. Herling. Stuttgart; Leipzig: Hippokrates, 1935.

Hygiene und Judentum. Eine Sammelschrift. Dresden: Jac. Sternlicht, 1930.

Jaensch, Walther (1934): Körperform, Wesensar und Rasse. Skizzen zu einer medizinisch-biologischen Konsitutionslehre. Leipzig: Thieme, 1934.

Jaensch, Walther (1934): Körperform, Wesensart und Rasse. Skizzen zu einer medizinisch-biologischen Konstitutionslehre. Liepzig: Thieme, 1934.

C. G. Jung (1935): Über Grundlagen der analytischen Psychologie. Die Tavistock Lectures 1935. Frankfurt a. M: Fischer Taschebuch, 1980.

Jütte, Robert (1998): Der kranke und der gesunde Körper. Gleichheit von Juden und Christen vor Krankheit und Tod. In: „Der schejne Jid“. Das Bild des „jüdischen Körpers“ in Mythos und Ritual. Hrsg. von Sander L. Gilman, Robert Jütte u. Gabriele Kohlbauer-Fritz. Wien: Picus, 1998, S. 133-144.

Klein, Otakar, Simon Efraim Karol u. Eva Kosakavy: Brit Mila: Theologisch-historische und medizinische Ansichten. In: Medizinische Wissenschaften und Judentum. Hrsg. von Nora Goldbogen, Susanne Hahn, Caris-Petra Heidel u. Albrecht Scholz. Dresden: Verein für regionale Politik und Geschichte, 1996, S. 62-69.

Kottek, Samuel S. (2000): Sozio-politische Bestrebungen zur Hygiene der Juden im 18. Jahrhundert. In: Sozialpolitik uznd Judentum. Hrsg. von Albrecht Scholz u. Caris-Petra Heidel. Dresden: Union Druckerei, 2000, S. 11-21.

Kümmel, Werner Friedrich (1998): Vom „unnütz verlogen Volk“ zum „volksfremden Denken“. Polemik gegen jüdische Ärzte im Wandel der Geschichte. In: Medizin und Antismeitismus [wie Bohleber, 1998], S. 31-47.

Le Bon, Gustave (1895): Psychologie der Massen. Mit e. Einführung von Peter R. Hofstätter. 15. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1982 (Kröner Taschenbuch; Bd. 99)

Lilienthal, Georg (1992): Arier oder Jude? Die Geschichte des erb- und rassenkundlichen Abstammungsgutachtens. In: Wissenschaft auf Irrwegen. Biologismus – Rassenhygiene – Eugenik. Hrsg. von Peter Propping und Heinz Schott. Bonn; Berlin: Bouvier, 1992 (Studium Universale; 17).

Lockot, Regine (1985): Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherpaie im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, 1985.

Lockot, Regine (1994): Le Bon, Gustave (1895): Psychologie der Massen. Mit e. Einführung von Peter R. Hofstätter. 15. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1982 (Kröner Taschenbuch; Bd. 99)

Die Reinigung der Psychoanalyse. Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft im Spiegel von Dokumenten und Zeitzeugen (1933-1951). Tübingen: Ed. diskord, 1994.

Lombroso, Cesare (1887): Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte. Nach d. 4. Aufl. der ital. Originalausgabe übers. Von A. Courth. Leipzig, Reclam, 1887.

Mann, Gunter (1985): Dekadenz- Degeneration – Untergangsangst im Lichte der Biologie des 19. Jahrhunderts. Medizinhistorisches Journal 20 (1985), S.  6-35.

Mollison, Theodor (1934): Rassenkund und Rassenhygiene. In: Erblehre und Rassenhygiene im völkischen Staat [wie Gütt, 1934], S. 34-48.

Nietzsche, Friedrich (1887): Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: Friedrich Nietzsche in zwei Bänden. Ausgew. U. eingel. von August Messer. 2. Bd. Leipzig: Kröner, 1930.

Nikolov, Sybilla (1998): Der soziale und der biologische Körper der Juden. In: Der schejne Jid… [siehe Jütte, 1998], S. 45-56.

Preuss, Julius (1911): Biblisch-talmudische Medizin. Beiträge zur Geschichte der Heilkunde und Kultur überhaupt. Berlin: Karger, 1911.

Scholz, Albrecht u. Caris-Petra Heidel (Hrsg.) (2000): Sozialpolitik und Judentum. Dresden: Union Druckerei, 2000.

Schäffer, C. (1938): Volk und Vererbung. Eine Einführung in Erbforschung, Familienkunde, Rassenlehre, Rassenpflege und Bevölkerungspolitik. 12. Aufl. Leipzig; Berlin: Teubner, 1938

Schemann, Ludwig (1930): Hauptepochen und Hauptvölker der Geschichte in ihrer Stellung zur Rasse. München: Lehmann, 1930.

Schemann, Ludwig (1931): Die Rasenfragen im Schrifttum der Neuzeit. München: Lehmann, 1931 (Die Rasse in den Geisteswissenschaften; Bd. 3)

Schott, Heinz (1974): Arbeit und Krankheit. Ein medizin-soziologischer Beitrag zur Problematik der Rehabilitation. Versuch einer wissenschaftskritischen Bestandsaufnahme. Med. Diss. Heidelberg 1974.

Schott, Heinz (1998): „In the light of nature“: The imagery of Paracelsus. In: Systèmes de Pensées Précartésiens. Etudes d’après le Colloque international … 1994. Réunies par ilana Zinguer et Heinz Schott. Paris: Champion, 1998 (Dhampion-Varia; 21), S. 277-301.

Schultze, Walter (1934): Die Bedeutung der Rassenhygiene für Staat und Volk in Gegenwart und Zukunft. In: Erblehre und Rassenhygien im völkischen Staat [wie Gütt, 1934], S. 1-21.

Seidler, Eduard (2000): Kinderärzte 1933-1945: entrechtet – geflohe –ermordet. Bonn: Bouvier, 2000.

Steppe, Hilde (1997): „… Den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“ Zur geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt a. M.: Mabuse, 1997.

Verschuer, Otmar von (1937): Erbpathologie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Medizinstudierende. Dresden; Leipzig: Steinkopf, 1937 (Medizinische Praxis; Bd. 18).

Verschuer, Otmar von (1941): Leitfaden der Rassenhygiene. Leipzig: Thieme, 1941.

Volkov, Shulamit (1990): Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays. München: Beck, 1990.