Individuum versus Gesellschaft − Das Dilemma des Arzt-Seins in historischer Perspektive (2015)

Diesen Vortrag hielt ich im Rahmen des Wissenschaftlichen Symposions „Arzt-Sein im Wandel der Medizin“ aus Anlass des 80. Geburtstages von Dr. med. Helmut Kretz in Brühl am 28. Februar 2015.

Verehrter Jubilar, lieber Herr Kretz!

Hochansehnliche Festversammlung!

Die Ausgangsfrage lautet: Hat der Arzt primär dem einzelnen Patienten oder der Gesellschaft bzw. bestimmten sozialen Gruppierungen zu dienen? Heute sind wir geneigt zu antworten: Natürlich ist der Arzt in erster Linie dem kranken Menschen als Individuum verpflichtet. Aber die Frage ist schon schwieriger zu beantworten, wenn wir etwa an die Problematik des Impfens, die Meldepflicht bei Geschlechtskrankheiten oder gar an die Triage beim Massenanfall von Verletzten denken. Das Dilemma für den Arzt besteht darin, dass er unausweichlich in ein Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen dem einzelnen kranken Menschen und seinen Bedürfnissen und dem gesellschaftlichen Kollektiv mit ihren moralischen und ökonomischen Standards gestellt ist. Es handelt sich hierbei um einen Interessenskonflikt, der sich jedoch nicht nur zwischen verschiedenen sozialen Gruppierungen oder Akteuren, beispielsweise ärztlichen Standesorganisationen und Krankenkassen, abspielt, sondern durchweg auch innerhalb der Person des einzelnen Arztes selbst virulent ist: manchmal unterschwellig kaum wahrgenommen, vielfach aber schmerzhaft empfunden. Dieses Zusammenkommen von Individuum und Gesellschaft im Denken und Handeln des Arztes selbst nenne ich also das Dilemma des Arzt-Seins. Dieses letztlich unlösbare Dilemma wenigstens ein Stück weit zu bewältigen oder zu besänftigen, gehört zu den schwierigsten Aufgaben ärztlichen Handelns. Vielleicht ist nur der ständige Kampf für das Leben angesichts des unausweichlichen Todes, eine wahre Sisyphosarbeit, noch schwerer zu ertragen und erfordert die Weisheit eines Albert Camus. Wir sollten aber auch daran denken, dass ebenso in der Person des Kranken widerstreitende Motive zusammenstoßen, denn er ist in den allermeisten Fällen ja nicht nur ein biologisch funktionierendes Einzelwesen, sondern als Zoon politikon auch Teil kollektiver Einstellungen. Dies wird heute oft vergessen, wenn von „dem“ Patienten die Rede ist.

Ich möchte meinen Vortrag in fünf Kapitel gliedern.

1. Autonomie versus Paternalismus: Die falsche Polarisierung

Im medizinethischen Diskurs der letzten Jahrzehnte gilt die „Autonomie des Patienten“ als oberster Wert, der gegen den traditionellen „Paternalismus“ der Ärzte ins Feld geführt wird. Damit wird die Forderung erhoben, das obsolet erscheinende „Fürsorgeprinzip“ durch das rechtlich korrekte „Autonomieprinzip“ abzulösen. Dementsprechend können sich Experten bei Podiumsdiskussionen trefflich über den Gegensatz von „salus aegroti“ versus „voluntas aegroti suprema lex“ streiten. Die vorherrschende Zielvorstellung ist der mündige Bürger im Sinne der Aufklärung à la Kant. Doch die Fiktion einer rationalen, selbstbewussten, aufgeklärten Person, die mit sich identisch ist, erscheint gerade in deren krankhaften Zuständen brüchig: Schwäche und Hilflosigkeit, Übelkeit und Schmerz, Bewusstlosigkeit und Wahn lassen den Menschen alles andere als autonom erscheinen, ja, bedeuten oftmals eine kaum überbietbare Fremdbestimmung. In dieser Situation tritt der Arzt und mit ihm die Medizin auf den Plan. Sie können zwei unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Kranken einnehmen: Zum einen die Haltung, dass durch bestimmte Techniken korrigierend in Leib und Seele des Patienten eingegriffen werden muss; zum anderen die Haltung, dass im Kranksein des Patienten selbst der Schlüssel zu seiner Heilung liegt und gerade dieser Schlüssel therapeutisch zu nutzen ist.

Rudolf Virchow hat diese unterschiedlichen Einstellungen in einem Vortrag von 1875 treffend beschrieben: „Physiokraten hat man diejenigen Ärzte genannt, welche die Heilkräfte in den physischen Einrichtungen des Organismus suchen; Technokraten diejenigen, welche die Heilkräfte in solchen ‚Mitteln’ oder Einwirkungen zu erkennen glauben, welche außerhalb des Kranken vorhanden sind, und auf ihn ‚angewendet’ werden.“ (Virchow, 1875, 12) Bereits hier sind wir mit einem Dilemma des Arzt-Seins konfrontiert: Inwieweit können wir der physis, der Heilkraft der Natur im Organismus trauen, und inwieweit müssen wir von außen korrigierend eingreifen und sozusagen paternalistisch dirigieren?

Hier deutet sich ein grundsätzlicher Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Ansätzen an, der bis heute spürbar ist: der Konflikt zwischen der so genannten ganzheitlichen und der Organmedizin, der Naturheilkunde und der naturwissenschaftlichen Medizin oder wie immer die Gegensatzbegriffe lauten mögen. Liegt es an den Behandlungsmethoden selbst, ob sie mehr dem Interesse des Individuums oder dem der Gesellschaft dienen, könnten man sich nun fragen. Dienen also zum Beispiel Psychotherapie und Psychoanalyse per se primär dem Individuum, da sie Ichstärkung und Selbstfindung zum erklärten Ziel haben, während etwa die psychiatrische Zwangsbehandlung pimär dem gesellschaftlichen Interesse dient, da sie die soziale Ordnung aufrechterhält? Eine solche Gegenüberstellung, die in antipsychiatrischen Zeiten beliebt war, wäre jedoch verfehlt. Denn die psychotherapeutische Stabilisierung in einer noch so subtilen Einzeltherapie kann durchaus im Interesse der Gesellschaft liegen − man denke an betriebspsychologische Konzepte der Konfliktberatung −, und die psychiatrische Zwangsbehandlung kann durchaus ganz im Interesse des Patienten sein − man denke an die Suizidprävention.

Die vor Jahrzehnten in der medizinischen Ethik beliebte Polarisierung von Autonomie versus Paternalismus, von partnerschaftlichem Arbeitsbündnis versus autoritärer Gesundheitsführung, ist inzwischen der nüchternen Erkenntnis gewichen, dass beide Pole in jedem Arzt-Patientenverhältnis in jeweils unterschiedlicher Gewichtung eine unverzichtbare Funktion haben. Der rein autonome Patient ist eine Fiktion oder Illusion, denn als Hilfsbedürftiger sucht er in der Regel immer auch Vertrauen, Anlehnung und Geborgenheit, also das, was man eine väterliche oder mütterliche Fürsorge nennen könnte. Der rein paternalistische Arzt (wobei die rein maternalistische Ärztin selbstverständlich mitgemeint ist) ist aber ebenfalls eine (schlechte) Fiktion, da er das Eigenleben seines Patienten ignorieren und in blinder, dirigistischer Manier den möglichen Behandlungserfolg gefährden würde. Insofern wird heute in positiver Weise von einem „schwachen Paternalismus“ gesprochen, um die adäquate Einstellung des Arztes zu charakterisieren.

2. Krankheit als soziale Normabweichung: Der Arzt als korrigierender Pädagoge

Die Therapeutik im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, war geprägt, ja besessen von der Idee der Korrektur, dem Herstellen einer gesunden und vernünftig erscheinenden Norm. Das klassische Buch „Orthopédie“ des französischen Arztes Nicolas Andry (1658-1742), womit der Begriff der „Orthopädie“ (von griech. orthos = gerade und pais = das Kind) in die Medizin eingeführt wurde, ist hierfür kennzeichnend (vgl. Andry, 1741). Wie der ausführliche Titel besagt, handelt es sich hier um einen Ratgeber für Mütter, drohende Fehlhaltungen der Kinder zu verhüten bzw. vorhandene zu korrigieren. Als Symbol hierfür fügte der Autor in sein Buch die Abbildung eines jungen Baumes ein, dessen krummer Stamm an einen Pflock fest angebunden werden muss, um gerade zu wachsen. Diese Idee der mechanischen Korrektur von Körperschäden ist zwar uralt, wurde aber erst im Kontext der Aufklärung in Form der Orthopädie im Sinne einer pädagogischen Gesundheitsführung allgemein verbindlich und insbesondere auf die „Irrenheilkunde“ übertragen, wie wir nun sehen werden.

Um 1780 begründete der schottische Arzt John Brown (1735-1788) eines der populärsten Heilsysteme der Neuzeit, das als Brownianismus rasch alle Bereiche der Medizin in Europa und Amerika eroberte. Er leitete alle Krankheiten aus dem Missverhältnis von Reizstärke und Erregbarkeit des Organismus ab und teilte sie dementsprechend in zwei Gruppen ein: in die sthenischen Krankheiten durch zu starke Erregung, wozu Manie und Tobsucht zählten, und die asthenischen Krankheiten durch zu schwache Erregung, wozu u. a. Melancholie und Hypochondrie gerechnet wurden. Davon wurde die Behandlungsstrategie abgeleitet: Reizentzug bei den „Sthenikern“ und Reizzufuhr bei den „Asthenikern“. In den Irrenhäusern der sich entfaltenden Psychiatrie Anfang des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Verquickung des orthopädischen Korrekturprinzips mit dem Gegensteuerungsprinzip des Brownianismus.

Der Psychiater als Patriarch und gewissermaßen als Monarch seines Irrenhaus-Reiches übernahm eine Doppelrolle als Erzieher und Arzt, der den Irren als behandlungswürdigen Kranken aus Gründen der Humanität und Philanthropie zu korrigieren und nach Möglichkeit zu heilen hatte. Sinnbild hierfür war der Zwangsstuhl als ein gedachter Heilapparat, den der berühmte amerikanische Arzt Benjamin Rush (1745-1813) als „Tranquillizer“ [sic], als „Beruhiger“, mit folgenden Worten propagierte: „Der Beruhiger hat viele Vorzüge vor der Zwangsjacke oder dem Zwangshemde. Er hemmt den Andrang des Bluts gegen das Gehirn, er vermindert die Muskelkraft überall gleichmäßig, setzt die Kraft und Häufigkeit des Pulses herab, begünstigt die Anwendung des kalten Wassers und des Eises auf den Kopf, und des warmen Wassers auf die Füße, welches beides vorzügliche Mittel in dieser Krankheit (Manie) sind; er setzt den Arzt in den Stand, den Puls zu fühlen´, und ohne irgend eine Störung zur Ader zu lassen […].“ (Rush, 1825, 147)

Dieser autoritäre Paternalismus wurde im Verlaufe des 19. Jahrhunderts gerade in der (naturwissenschaftlichen) „Schulmedizin“ − aber auch in der Naturheilkunde (!) − beibehalten und von den allermeisten Ärzten sowohl im Krankenhaus als auch in der Privatpraxis kultiviert. Auch die Vertreter der Naturheilkunde und biologische Ganzheitsmedizin im frühen 20. Jahrhundert, als sich nach dem Ersten Weltkrieg die „Krise der Medizin“ anbahnte, träumten – trotz ihrer Kritik an einer technokratischen, rein objektivistischen Medizin – von einem Arzt, der im Interesse von Volk und Vaterland die Rolle eines „Gesundheitsführers“ übernehmen sollte, wie der deutsche Arzt und Schriftsteller Erwin Liek (1870-1935) in seinem Bestseller „Der Arzt und seine Sendung“ höchst publikumswirksam darlegte (vgl. Liek, 1925). Dort lesen wir u. a. den schwülstigen Satz: „Was Paracelsus erzeugt hat, sind vollsaftige Kinder, heute sehen wir gar zu viele kümmerliche Früh- und Mißgeburten.“ (Liek, 1926, S.88) Eine solche Art von Medizingeschichtsschreibung diente zur Affirmation eines fragwürdigen Selbstverständnisses der Ärzte als Gesundheitsführer, die im Nationalsozialismus und insbesondere zum 500. Geburtstag von Paracelsus 1943 ihren Gipfel erreichte. (Gleichwohl schreibt Liek lebendig, packend und trifft häufig den Nagel auf den Kopf! Er war ein hervorragender Kenner der Heilkraft der Suggestion, was wir heute als Placebo-Effekt bezeichnen.)

3. Ökonomisierung und Wettbewerb: Der Arzt in der Zerreißprobe

Die seit Jahrzehnten anhaltenden Reformbestrebungen im Gesundheitswesen lassen sich auf den Nenner der Ökonomisierung bringen. Darunter wird die Übertragung ökonomischer Kalküle auf das Gesundheitswesen verstanden, was einen fundamentalen Rollenwandel der Akteure zur Folge hat: Tendenziell wird der Arzt zum anbietenden Verkäufer, der Patient zum nachfragenden Kunden und das Krankenhaus zum privaten Wirtschaftsunternehmen analog einer Autofabrik. Diese neue Ausrichtung folgt der Logik der Betriebswirtschaft, wonach die Ressourcen profitabel eingesetzt und einen Gewinn erzielen müssen. Diesem Ziel haben sich alle diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen unterzuordnen. Man kann hier – analog etwa zur gegenwärtigen Wissenschafts- und Hochschulpolitik – von einer „Verbetriebswirtschaftlichung“ (Heribert Prantl) der Medizin im Allgemeinen und der ärztlichen Tätigkeit im Besonderen sprechen. Entsprechend wird das Arzt-Patienten-Verhältnis zunehmend vom betrieblichen „Management“ bestimmt, was sich in wachsendem Verwaltungsaufwand und wachsender Bürokratisierung der ärztlichen Tätigkeit niederschlägt, die durch die Digitalisierung eine ungeahnte Perfektion erreicht hat. In dieser Maschinerie hat der kranke Mensch als Subjekt mit seinen recht eigensinnigen Bedürfnissen keinen Ort und keine Bedeutung mehr. Dasselbe gilt freilich auch für den behandelnden Arzt, was ja vielfach beklagt wird.

Natürlich ist festzuhalten, dass auch in früheren Zeiten ökonomische Berechnungen für das Gesundheitswesen maßgeblich waren. Sehr deutlich machten sich diese in Deutschland nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs bemerkbar. In ihrer Schrift „Von der Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, das der Psychiater Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding 1920 veröffentlichten, wurden mit volkswirtschaftlicher Argumentation geistig schwer Behinderte („geistig Tote“) als „Ballastexistenzen“ eingestuft, deren Lebensrecht – primär aus volkswirtschaftlichen (nicht rassenbiologischen!) Gründen – in Frage zu stellen sei. Mit derselben ökonomischen Argumentation wurden die eugenischen Maßnahmen „zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses“ diskutiert, welche das betreffende NS-Gesetz von 1933 in Form der Zwangssterilisation vorschrieb. Ökonomische Berechnungen sollten belegen, wie widersinnig es sei, diese „entarteten“ Wesen auf Kosten der Allgemeinheit durchzufüttern und zu pflegen. Auch hier handelte es sich um einen Wettbewerb, jedoch nicht um einen betriebswirtschaftlich motivierten Wettbewerb auf dem Gesundheitsmarkt, sondern um einen volkswirtschaftlich begründeten ganzer Nationen im Sinne ihrer weltweiten imperialen Ansprüche. Dieser Wettbewerb mag gegenüber der heute vorherrschenden „Verbetriebswirtschaftlichung“ inzwischen ideologisch in den Hintergrund getreten zu sein. Dass er aber auch und gerade im Zeitalter der Globalisierung und der „freien Marktwirtschaft“ noch seine Bedeutung hat – man denke nur an Debatten über den „Standort Deutschland“ im Zusammenhang mit Stammzellforschung und Biotechnologie –, steht außer Frage.

Der Wettbewerb in der Medizin orientiert sich heute am Vorbild der privaten Wirtschaft mit ihren betriebswirtschaftlichen Strategien. Damit kommt jedoch das Prinzip des Sozialdarwinismus, den man längst überwunden glaubte, sozusagen durch die Hintertür wieder herein: Der kostengünstigere Anbieter soll sich auf dem Gesundheitsmarkt durchsetzen und der Kunde letztlich nur noch das bekommen, was er sich (finanziell) leisten kann. Dieser Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen entspricht übrigens dem im Hochschulwesen einschließlich der Hochschulmedizin: Die gegenwärtige Hochschulpolitik mit ihrem Evaluations- und Elitewahn unter dem Etikett der „Freiheit“ und „Innovation“ hat sich ganz dem Wettbewerbsdenken verschrieben und sich weitgehend vom Ideal der Bildung („Bildung durch Selbstbildung“, Wilhelm von Humboldt) verabschiedet.

4. Die Medizin als „soziale Wissenschaft“: Zum Konzept von Rudolf Virchow

Gerade im Zeitalter der „technisch-industriellen Revolution“ wurden deren Gesundheitsgefahren durch Ärzte, die auf dem sozialmedizinischen Terrain aktiv waren, thematisiert, insbesondere bei der Seuchenbekämpfung und in der Kritik sozialen Elends und hygienischer Notstände. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Stellungnahme von Rudolf Virchow, der 1848 im Auftrag der preußischen Regierung als Beobachter das oberschlesische „Typhusgebiet“ bereiste. Seine medizinischen und epidemiologischen Beschreibungen gipfelten in einem sozialpolitischen Bekenntnis. Angesichts der „grauenvollen Noth […] einer armen, unwissenden und stumpfsinnigen Bevölkerung“ forderte Virchow „freie und unumschränkte Demokratie“. Gegen Elend und Seuche könne nur der Umsturz helfen, der zu Freiheit und Wohlstand führe. Die Frage, wie man in Zukunft ähnlich verheerenden Zuständen wie in Oberschlesien vorbeugen könne, sei einfach zu beantworten: „Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand.“ Virchow argumentierte als ein Sozialmediziner: „Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Grossen.“

Das Großartige an Virchows Konzeption ist aus meiner Sicht, dass er wie kaum ein anderer Arzt seiner Zeit die soziale Aufgabe der Medizin hervorhob, aber gerade nicht im Sinne der Sozialdarwinisten wie etwa seines Schülers Ernst Haeckel, den er öffentlich kritisierte, sondern im Sinne des einzelnen Menschen, der für ihn im Mittelpunkt stand. Nicht nur der Begriff der Lebenskraft und der Einheit des menschlichen Lebens offenbart Virchows Nähe zu naturphilosophischem Denken (vgl. Walter Pagel). Auch das Mikrokosmos-Makrokosmos-Modell, die Vorstellung, dass der Mensch als kleine Welt (Mikrokosmos) alle Dinge der großen Welt (Makrokosmos) in sich trage und mit diesen korrespondiere, ist bei Virchow wiederzuentdecken. Im Begriff des Organismus als Zellenstaat zeigt sich sogar eine Verdoppelung dieses Modells: denn wie sich die einzelne Zelle zum Organismus als Zellenstaat verhält, so verhält sich der einzelne Organismus zur menschlichen Gesellschaft („Staat“). Das menschliche Individuum ist in diesem Konstrukt gleichsam Mikrokosmos und Makrokosmos zugleich: Gegenüber der Einzelzelle ist der Organismus ein Makrokosmos, gegenüber dem „Staat“ ist er ein Mikroorganismus.. Im Mittelpunkt von Virchows Denken steht also der einzelne Mensch und insbesondere der einzelne kranke Mensch − und nicht die Zelle auf der einen oder die Gesellschaft („Staat“) auf der anderen Seite, zwischen denen das Individuum zerrieben wird. Zwei Leitsätze von Virchow unterstreichen dies: Die „Medicin ist die Wissenschaft von dem gesunden und kranken Menschen“. „Die Medicin ist ihrem innersten Kern und Wesen nach eine sociale Wissenschaft.“1

Ein solches sozialpolitische Engagement von Ärzten, wie wir es bei Virchow sehen, offenbarte eine Gegenperspektive: Statt Ökonomisierung im Sinne von Konkurrenz und Profit wurde eine Solidarisierung mit dem „armen Kranken“ propagiert, statt Biologisierung im Sinne von Ausgrenzung und Stigmatisierung stand dessen Befreiung von menschenunwürdigen Lebensverhältnissen auf der Tagesordnung. Statt destruktivem Konkurrenzkampf stand die Idee der konstruktiven Arbeitsteilung im Dienste von „Menschenwohl und Menschenwürde“ im Vordergrund, welche u. a. in der Arbeiterbewegung populär war. Die religiösen Wurzeln dieses Ansatzes sollen abschließend angedeutet werden.

5. Barmherzigkeit und Fürsorge: Religiöse Quellen des Arzt-Seins

Der wirtschaftliche Wettbewerb, sei er nun betriebswirtschaftlich auf die Akteure auf dem Gesundheitsmarkt oder volkswirtschaftlich auf die Konkurrenz der Völker und Nationen bei der Aufteilung der Welt bzw. des Weltmarkts ausgerichtet, kollidiert dort mit dem ärztlichen Ethos, wo der „arme Kranke“ auf den Plan tritt. Soll er verhungern oder ohne Hilfe und Behandlung bleiben, nur weil er arm ist? Die Weltreligionen haben diese Frage in bemerkenswerter Einmütigkeit verneint. So hat das Christentum von Anfang an die Unterstützung Hilfsbedürftiger, Kranker und Verletzter – nach dem Vorbild des barmherzigen Samariters im Neuen Testament (Lk 10, 30-37) – als Akt der Nächstenliebe angemahnt. Die im christlichen Abendland sich entfaltende Armen- und Krankenfürsorge unter dem Vorzeichen von caritas (Fürsorge) und misericordia (Barmherzigkeit) spielten dann im Mittelalter eine tragende Rolle im sozialen Leben.

Die von der Klosterregel des Benedikt von Nursia (480-560) inspirierte Einrichtung von Hospitälern diente weniger einer medizinischen Spezialbehandlung als vielmehr der Krankenpflege, die als Akt der christlichen Wohltätigkeit verstanden wurde. Die Barmherzigkeit galt als eine Haupttugend und wurde gemäß dem Bibelwort „Was ihr getan habt einem von meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 34-46) in sieben Werken gesehen: Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen und Tote bestatten. Diese religiösen Wurzeln der Armen- und Krankenpflege haben nachhaltige Spuren im säkularisierten Gesundheitswesen hinterlassen, wie sie sich nicht zuletzt in den von der Aufklärung inspirierten Medizinalreformen widerspiegeln.

Die unheilvolle Allianz von Krankheit und Armut ist heute – nicht nur im globalen Maßstab – so aktuell wie eh und je. In den längst vergangenen Jahrzehnten des Wirtschaftwunders und Wohlstands nach dem Zweiten Weltkrieg war das Thema „Armut“ allenfalls eines der Erinnerung an „schlechte Zeiten“. Bis vor wenigen Jahren wurde von der Politik abgestritten, dass es Armut („Prekariat“) in unserer Gesellschaft überhaupt geben würde. Was geschieht mit denen, die keine Barmittel zur Verfügung haben, um so genannte IGeL (Individuelle Gesundheitsleistungen) zahlen zu können und somit aus dem wachsenden Markt der „Selbstzahlermedizin“ herausfallen? Was geschieht mit den multimorbiden Alten, die sich kein gehobenes Seniorenheim leisten können? Um deren Behandlung wird sicherlich kein Wettbewerb der Ärzte, Krankenhäuser oder Krankenkassen ausbrechen, ganz im Gegenteil: Alle Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt werden einen großen Bogen um sie machen.

Unterschwellig werden Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger heute hie und da (wieder) als „Parasiten“ oder „Sozialschmarotzer“ stigmatisiert. Wer beim „Wettbewerb“ nicht mithalten kann, was insbesondere für arme Kranke zutrifft, wird in Zukunft immer weniger Hilfe erwarten dürfen. Damit aber stehen Humanität und Menschwürde auf dem Spiel. Heilkunde bedeutet nämlich etwas anderes als ein bloßes Geschäft: Der Arzt hat mehr zu sein als nur ein homo oeconomicus und sein Patient mehr als nur ein homo biologicus. Inwieweit sich ein Arzt in der Wettbewerbsgesellschaft deren scheinbar unumstößlichen Sachzwängen beugen darf und soll, ist eine crucial question für sein Gewissen. Paracelsus schrieb einst im „Paragranum“ (1530): „so bald der arzt im sinn hat, sein gewin anderst zu brauchen dan aus reinem herzen, so stehet er auf falschem grunt […].“

Doch wie kann Arzt-Sein „reinen Herzens“ angesichts des skizzierten Spannungsfeldes praktiziert werden? Viktor von Weizsäcker propagierte Ende der 1940er Jahre eine „Habeas Corpus-Akte der Medizin“: „Es ist an der Zeit, daß ein praktisch wirksames Verfahren gefunden werde, durch welches der Kranke oder sonst gesundheitlich Behinderte geschützt werde gegen unmäßig hohe und verwerfliche Forderungen, die Staat, Industrie, Wehrmacht oder Gesellschaft an ihn stellen können. Diese Mächte würden auch ihrerseits geschützt sein gegen ein Unmaß, welches ihnen selbst zuletzt Schaden bringt. […] Eine ‚Habeas Corpus-Akte der Medizin’ müßte […] ein praktikables Verfahren in geistiger Läuterung zum Schutze des Kranken begründen, durch welches auch die ihn umgebenden Mächte gegen einen Mißbrauch geschützt werden.“2 Mit dieser vagen Idee einer „Habeas Corpus-Akte“ benennt Viktor von Weizsäcker auf seine Weise das Dilemma des Arztseins, ohne es wirklich lösen zu können.

Ich darf mit einem Zitat von Helmut Kretz schließen, in dem sein Verständnis von Arzt-Sein in der Psychiatrie zum Ausdruck kommt. Anlässlich des 100. Geburtstags seines Lehrers Walter Ritter von Baeyer schrieb er 2004 rückblickend: „Als Fundament für die sozialpsychiatrischen Reformen diente eine durch von Baeyer entscheidend geformte anthropologische Psychiatrie. […] Mit der [von Baeyers] Studie ‚Der Begriff der Begegnung in der Psychiatrie’ (1955) wurde seinen Widersachern in der restaurativen deutschen Psychiatrie nach 1945 deutlich, dass von Baeyer den obsolet gewordenen Dualismus zwischen Somatikern und Psychikern überwunden hatte […]; nun war der bisherige Endogenitätsbegriff nicht mehr zu halten. Ohne diese mitmenschliche Grundhaltung („Heilung aus der Begegnung“) ist heute keine Behandlung in der Psychiatrie denkbar.“3 Gerade diese von Helmut Kretz hervorgehobene „mitmenschliche Grundhaltung“ ist sicher ein wirksames Antidot gegen das Gift inhumaner Zumutungen, denen Ärzte immer wieder ausgesetzt sind.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit!

1 Zit. n. Jacob, 1967, S. 159 [Virchow: Einheitsbestrebungen]

2 V. von Weizsäcker: Zum Begriff der Arbeit. Eine Habeas Corpus-Akte der Medizin? In: GS 8, S. 222.

3 Deutsches Ärzteblatt, PP3, 10.12.2004, S. 559