1974 promovierte ich an der Medizinischen Fakutlät der Universität Heidelberg mit der Dissertation
„Arbeit und Krankheit. Ein medizinsoziologischer Beitrag zur Problematik der Rehabilitation, Versuch einer wissenschaftskritischen Bestandsaufnahme“.
Doktorvater war Prof. Dr.med. Wolfgang Jacob. Derzeit bin ich dabei, diese Dissertation in ein Buchformat zu bringen und zu veröffentlichen, was in der zweiten Jahreshälfte 2020 gelingen kann. So liegt es nahe, mich von neuem an meinen Doktorvater zu erinnern, der mich wahrscheinlich stärker geprägt hat, als mir bisher bewusst war. Dieser Beitrag stellt eine Variation zu meines früheren Textes dar.
Siehe hierzu auch die publizierte Fassung.
1974 habe ich meine medizinische Promotion bei Wolfgang Jacob in Heidelberg abgeschlossen. Heute, nach 45 Jahren, ist es Zeit, mich noch einmal meinem früheren Doktorvater zuzuwenden, der nun schon ein Vierteljahrhundert Jahre tot ist.
Über Wolfgang Jacobs Lebenslauf gibt es nur spärliche Informationen. Hier wäre vor allem der Buchbeitrag von Peter Hahn „Zur Erinnerung an Wolfgang Jacob“ (2008) hervorzuheben. Es liegt außerhalb meiner Möglichkeit, an dieser Stelle die biografische Lücke zu schließen, und ich muss mich deshalb mit einigen Hinweisen begnügen. Jacob hat als Internist und Tuberkulosearzt in Heidelberg gearbeitet und aufgrund seiner medizinanthropologischen Auffassungen berufliche Schwierigkeiten bekommen. Schließlich war er am Pathologischen Institut unter der Leitung von Wilhelm Doerr gelandet, einem im Goethe’schen Sinne humanistisch gebildeten Forscher. Dort leitete Jacob mit dem Segen des Institutsdirektors die Abteilung für Dokumentation, soziale und historische Pathologie. Diese Bezeichnung lässt den direkten Bezug auf Virchow erkennen, mit dessen sozialmedizinischem Ansatz sich Jacob besonders intensiv befasste. Er habilitierte sich 1967, also im Alter von 48 Jahren, mit einer Schrift über Virchow, auf die ich noch zurückkommen werde. Um 1968/69 erhielt er einen Lehrauftrag für Sozialmedizin bzw. Medizinische Soziologie an der neugegründeten Medizinischen Fakultät der TU München. Die Hoffnung, dorthin auf eine entsprechenden Lehrstuhl berufen zu werden, erfüllte sich nicht. Schließlich wurde 1972 dort − an Jacob vorbei − das Institut für Geschichte der Medizin und Medizinische Soziologie gegründet.
Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass mein medizinischer Doktorvater etwa zur selben Zeit, als ich in Heidelberg mein Medizinstudium aufnahm und ihn kennenlernte, seine Habilitationsschrift publizierte. Sie trug den komplexen Titel: „Medizinische Anthropologie im 19. Jahrhundert. Mensch – Natur – Gesellschaft. Beitrag zu einer theoretischen Pathologie. Zur Geistesgeschichte der sozialen Medizin und allgemeinen Krankheitslehre Virchows“ (1967). Er habilitierte sich für das Fach Pathologie bei Wilhelm Doerr, wobei ihn der Medizinhistoriker Heinrich Schipperges unterstützte. Im Heidelberger Ambiente des 68er Umbruchs begegnete mir dank Jacob zum ersten Mal nicht nur der Name Viktor von Weizsäckers, sondern auch derjenige Virchows. Erst kürzlich ist mir aufgefallen, dass in der Literatur zu Virchow Sigmund Freuds Name nicht auftaucht, wie auch umgekehrt in der psychoanalytischen Literatur Virchow keine Rolle spielt (auch Freud selbst erwähnt ihn nur ein einziges Mal an peripherer Stelle). Dies hat wohl den einfachen Grund darin, dass man die jeweilige Vorgeschichte ignoriert, die in einer gemeinsamen Ideengeschichte − nicht zuletzt in der romantischen Naturphilosophie − verankert ist. Wolfgang Jacob machte hier eine große Ausnahme: Er schlug am Ende seiner Habilitationsschrift den Bogen von Virchow zu Freud („Virchow − Krehl − Kraus − Freud“), wobei er in der medizinischen Anthropologie der sogenannten Heidelberger Schule der Psychosomatik (Krehl, Siebeck, V. v. Weizsäcker) Virchows Maxime vom Menschen als „einheitlichem Wesen“ aufgehoben sah.1
Das Besondere an dieser Habilitationsschrift ist, dass sie einen weiten ideengeschichtlichen Bogen schlägt: Vom Naturbegriff in der Wissenschaftsgeschichte des Abendlands, über das Verhältnis von Natur, Mensch und Gesellschaft in der frühen Neuzeit, den „Anbruch des naturwissenschaftlichen Jahrhunderts“ (Alexander von Humboldt) bis hin zu den Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medizin und den „Einbruch des Sozialen in die Pathologie“. In diesem zuletzt genannten Hauptkapitel analysierte Jacob die oft verkannte Position Virchows, die entschieden von der „Einheit des menschlichen Wesens“ (Virchow) ausging. Es ist Jacobs großes Verdienst, dass er in Virchows Werk eine genuine medizinische Anthropologie entdeckte, welche Medizin als ein soziale Wissenschaft und die leiblichen und geistigen Erkrankungen des Volkes als „soziale Pathologie“ begriff.
Bereits 1855 bedeutet für Virchow der lebende Organismus „ein freier Staat gleichberechtigter, wenn auch nicht gleich begabter Einzelwesen, der zusammenhält, weil die Einzelnen aufeinander angewiesen sind […].“2 Was das „Individuum im Großen“, sei „die Zelle im Kleinen“.3 Virchows Rede vom „Zellenstaat“ darf eben nicht im Sinne des Biologismus und Sozialdarwinismus, der sich Ende des 19. Jahrhunderts breitmachte, missverstanden werden. So wehrte er sich gegen die Position seines Schülers Ernst Haeckel, der Virchows Rede vom Zellenstaat nicht als eine Analogie oder Metapher begreifen wollte, sondern als wissenschaftliche Tatsache behauptete. Er misstraute dem Sozialdarwinismus, der ja nicht von der „Einzel-Existenz“4 (Zelle − Bürger) ausging, sondern von einem ethnisch definierten „Volkskörper“, der sich nach innen gegen (nicht nur rassische) „Volksschädlinge“ und nach außen gegen feindliche (und in der Regel „rassisch minderwertige“) Völker zu wehren hatte. Gegen solche Anschauungen war Virchow immun.
Doch was bedeutet Virchows Rede von der Medizin als sozialer Wissenschaft. Weder die einzelne Zelle auf der einen, noch die Gesellschaft oder der Staat auf der anderen Seite sind der springende Punkt, um den sich das menschliche Leben dreht, sondern es ist der lebendige Organismus des Individuums. Diese medizinische Anthropologie, wie sie Virchow systematisch begründet hat, wird heute weitgehend ignoriert. Die Frage nach Bedeutung und Aufgabe des Individuums für eine demokratische Gesellschaft hat scheinbar nichts mehr mit Medizin zu tun. Die Kunst der heutigen Gesundheitsökonomie oder evidenzbasierten und personalisierten Medizin besteht ja gerade darin, die am einzelnen Subjekt ausgerichtete medizinische Anthropologie mit statistischen Methoden zu überwinden. Virchows Begriff der Freiheit und die damit assoziierten Begriffe „Demokratie“, „Wohlstand“ und „Humanität“ sind heute so aktuell wie damals.
Jacobs Texte, nicht nur seine Habilitationsschrift, bestehen schätzungsweise zu zwei Dritteln aus direkten oder indirekten Zitaten mit genauen Quellenangaben. Dieses intensive Referieren zeigt sein Bemühen, sich in das Denken und die Erkenntnisse anderer Autoren sozusagen einzuleben. Nicht die eigenen Formulierungen zur Selbstdarstellung waren ihm wichtig, sondern die Sache selbst, deren er sich mit Hilfe anderer vergewissern wollte. Wahrscheinlich bin ich in diesem Punkte ein Jacob-Schüler. Andererseits zeichnen sich Jacobs Abhandlung durch ihre systematische Gliederung, die immer dort, wo es dem Autor wichtig erscheint, von historischen Exkursen durchbrochen wird. In seinem Buch „Kranksein und Krankheit. Anthropologische Grundlagen einer Theorie der Medizin“ (1978) geht er am Schluss auf eine Thematik ein, die auch mich immer wieder beschäftigt hat, nämlich: Selbstversuch, Selbstanalyse, Selbsttherapie: „Das ärztliche der Nichtärzte ist Voraussetzung des Weges zu einer neuen Gesundheit. Die These lautet: ‚jeder Mensch ist ein Arzt gegenüber sich selbst, gegenüber seiner mitmenschlichen Welt, und er ist ein Arzt der Kreatur“./ ‚Jeder Mensch ist ein Arzt’ − das will sagen: jeder Mensch verfügt über ein Mindestmaß an ärztlicher Begabung, ähnlich wie jeder Mensch über ein Minimum an musikalischem Talent verfügt.5
Meine Erinnerungen an Wolfgang Jacob sind recht dicht mit der damaligen Studentenbewegung verwoben. Als ich im Frühjahr 1966 als 19jähriger nach Heidelberg kam, um Medizin zu studieren, lag etwas in der Luft. Der zauberhafte Heidelberger Frühling verhieß nicht nur einen Neuanfang in meinem Leben, das ich bis dahin zurück gesetzt in der Rheinpfalz verbracht hatte. Er ließ subtil auch eine größere Wende erahnen, die sich in zahllosen Diskussionen in meinem Studentenwohnheim an der Bergstraße, in der Evangelischen Studentengemeinde, in der Mensa und anderswo ankündigte. Der Protest gegen die brutale Kriegsführung der USA in Vietnam gehörte zu den Schlüsselerlebnissen. Die in den Medien erscheinenden Bilder und Berichte über den Vernichtungsfeldzug mit Napalm-Bomben und „free fire zones“ rüttelten gerade die Mediziner auf. Erich Wulff (Pseudonym: Georg W. Alsheimer), der als Arzt über seine „vietnamesischen Lehrjahre“ berichtete, war schon bald nach Erscheinen seines Buches 1968 ein begehrter Referent bei studentischen Veranstaltungen. Ich habe ihn später in München vortragen hören.
Das große Zauberwort jener Zeit hieß „Bewusstseinserweiterung“, die tatsächlich von anerzogenen Hemmungen im Denken und Handeln ein Stück weit befreite. Es gab eine kurze Zeit, vielleicht zwei oder drei Jahre, in der die bewegten und sich bewegenden Studenten in der überwiegenden Mehrzahl ihr Weltbild, ihren Lebensentwurf und ihr praktisches Verhalten grundlegend änderten und sich für neue Themen öffneten, ohne sich schon einer bestimmten politischen Dogmatik oder gar Vereinigung unterzuordnen. Für meine Heidelberger Zeit bis zum Sommer 1968 – ich wechselte dann zur neu gegründeten Medizinischen Fakultät der TU München – waren zwei „Netzwerke“ von großer Bedeutung: Zum einen die intensive und teilweise hitzige Gesprächsatmosphäre im Evangelischen Studentenwohnheim der Keller-Thoma-Stiftung, wo sich zwei Fraktionen miteinander stritten: die Sozialisten auf der einen und die Pietisten auf der anderen Seite, dazwischen die „Scheißliberalen“, denen Glaubenskämpfe per se suspekt waren und zu denen ich mich zählte. Zum anderen die nicht weniger hitzigen Debatten in den Seminaren über psychosomatische Medizin und medizinische Anthropologie im Sinne Viktor von Weizsäckers, die Wolfgang Jacob kontinuierlich für einen Kreis von interessierten Studenten und Ärzten abhielt. Hier wurde vor allem Kritik an der „herrschenden“ naturwissenschaftlichen Medizin geübt, indem man einschlägige, insbesondere Weizsäcker’sche Texte, referierte und diskutierte. Solche seminaristischen Aktivitäten spiegelten insofern Themen der 68er Studentenbewegung in der Medizin wider, als sie sich mit den Verbrechen von Ärzten im Nationalsozialismus und inhumanen Zuständen in psychiatrischen Anstalten auseinandersetzten und für eine neue Sensibilität der Universitätsmedizin für sozialmedizinische und medizinpsychologische Belange der Krankenversorgung warben.
Es gab Schlüsselerlebnisse für meine „Bewusstseinerweiterung“. Ich erinnere mich an eine eindrucksvolle Szene während einer Veranstaltung in einem großen, überfüllten Hörsaal, bei der es um die Zwangssterilisation im „Dritten Reich“ ging. Wahrscheinlich war sie vom Heidelberger Arbeitskreis „Medizin und Verbrechen“ der „Kritischen Universität“ organisiert worden. Als ein Großordinarius der Inneren Medizin (es war der Internist Gotthard Schettler) erklärte, der Eingriff bei Männern sei doch medizinisch ziemlich harmlos, ergriff eine engagierte Teilnehmerin, die ich aus Jacobs Seminar schon kannte (nämlich Mechthild Kütemeyer), das Wort und rief mit überaus lauter, zorniger Stimme: „Wenn das so harmlos ist, fordere ich Sie hiermit auf, sich doch sterilisieren zu lassen!“ Ich bewunderte ihren Mut.
Jacobs Seminare waren für mich, dem jungen Meizinstudenten, ein wirkliches Faszinosum. Ich spürte hier einen Widerstand gegen den Zeitgeist insbesondere in der Medizin, er sich nicht aus parteipolitischen Maximen oder gesellschaftskritischen Dogmen ableitete, sondern aus für mich schwer verständlichen Schriften und philosophischen Überlegungen. Da war von Subjekt und Subjektivität die Rede, von Sinnesphysiologie, von Wahrnehmen und Bewegen, von Psychosomatik und Psychoanalyse, Namen fielen in der Runde, von denen ich praktisch noch nie etwas gehört hatte: Yrjö Reenpää, Maurice Merleau-Ponty, Edmund Husserl und viele andere. In Jacobs „Konventikel“ herrschte nie Langeweile oder gar Gleichgültigkeit. Es war immer etwas los: Hitzige Debatten über bestimmte Begriffe, Autoren, Irrewege der naturwissenschaftlichen Medizin. Thesen wurde vorgetragen, leidenschaftliche Plädoyers gehalten. Heinrich Huebschmann mit seiner hohen eindringlichen Stimme wird mir immer in Erinnerung bleiben, der wie eine Sirene die Missstände der herrschenden Medizin anprangerte. Der Titel seines 1974 erschienenen Buches „Krankheit – ein Körperstreik“ wir ihm wie auf den Leib geschnitten. Dieser kämpferische Mann symbolisierte in seinem Auftreten selbst den Streik.
Ich begann 1967 mit bei dem frisch gebackenen Privatdozenten Jacob mit den ersten Plänen zu einer Dissertation. Ich erinnere mich an wundervolle Gespräche unterm Dach der Pathologie, wo er sein Domizil hatte und mich zumeist mit rauchender Pfeife empfing. Er assoziierte gerne frei und schaute dem aufsteigenden Pfeifenrauch nach, als ob er einen Blick in den Himmel werfen würde. Die Gedanken rissen ihn manchmal mit und ich konnte nur staunen. Alles schien möglich bei ihm, und gerade das gefiel mir ungemein. Er war ja alles andere als ein Dogmatiker, der auf eine bestimmte Lehre fixiert war und etwa nur Weizsäcker hätte gelten lassen. Marx, Freud, Herbert Marcuse, Adorno, alles schien ihn zu interessieren. Und so schrieb ich meine Doktorarbeit ungehemmt, lustvoll und frei: „Arbeit und Krankheit. Ein medizinsoziologischer Beitrag zur Problematik der Rehabilitation“. Die Promotion wurde übrigens 1974 abgeschlossen, ein sehr schmerzloses Rigorosum erlebte ich dann bei Paul Christian. Als ich dann im Wintersemester 1868/69 an die TU München wechselte, besuchte ich weiterhin die Seminare von Wolfgang Jacob, der wie bereits erwähnt, dort einen Lehrauftrag hatte. Ich erinnere mich noch, wie ich damals über das gerade erschienene Buch von Klaus Dörner „Bürger und Irre“ (1969) referierte, das die Psychiatrie-Debatte, die in Jacobs Seminaren eine große Rolle spielte, ungemein beeinflusste. Als ich ihn zuletzt im Oktober 1993 zufällig auf einem Kongress in der Heidelberger Stadthalle traf, sagte er zu mir voller Anerkennung: „Sie haben es geschafft, was ich nie geschafft habe“. Er meinte den Ruf auf einen Lehrstuhl, der ihm versagt blieb.
In seinem Artikel „Viktor von Weizsäcker“, veröffentlicht 1991 in den „Klassikern der Medizin“, schrieb Wolfgang Jacob im letzten Absatz: „In unserer Zeit, in der das naturwissenschaftliche Denken und mit ihm die Technik, aber auch die objektivierende Psychologie das Menschsein und mit ihm das Kranksein zu überwuchern droht […], in einer Zeit, da die ‚Gegenseitigkeit des Lebens’ zu einer Lebensnotwendigkeit geworden ist, und die Aufmerksamkeit mehr und mehr sich darauf richtet zu fragen: Wer ist der Mensch? In einer solchen Zeit kann auch der kranke Mensch nicht nur ein reines ‚Objekt’ der Medizin bleiben! Kranksein des Menschen ist selbst − wie Geburt und Tod − Lebensgestalt und Lebensgestaltung, Schicksalsgestalt und Schicksalsgestaltung menschlicher Existenz. Wir haben keinen Grund, von einer so immensen Erweiterung des Weltbildes der Medizin uns abzuwenden, wie sie im Werk Viktor von Weizsäckers […] sich darbietet.“6 Als sein ehemaliger Doktorand möchte ich hinzufügen: Er erweiterte durch seine Offenheit und Begeisterungsfähigkeit mein Weltbild über viele Jahre hinweg ungemein, ohne ihn wäre ich vermutlich dem Weizsäcker’schen Denken (und wahrscheinlich der Medizingeschichte) nie begegnet, und so war das, was ich damals in Heidelberg und später auch in München bei ihm gelernt habe, ein „Input“ fürs ganze Leben.
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