„ein jegliches hat seine Zeit …“ – Werden und Vergehen als Topos in der Medizingeschichte (2017) [1]

Diesen Vortrag hielt ich im Rahmen des Symposiums „Zur Bedeutung der Zeit in der Medizin“ in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in Berlin am 10.02.2017.

Hier das Programm.

Hier die PPT-Präsentation mit den 22 Folien, auf die im Text verwiesen wird.

Im folgenden das Redemanusrkipt, das inzwischen veröffentlicht wurde (siehe hier) in:

Zur Bedeutung der Zeit in der Medizin: Für eine zeitliche Kultivierung der Patient-Arzt-Begegnung.

Hg. von Peter F. Matthiessen. Kulmbach: ML Verlag, 2018, S. 97-119.

Zunächst zwei Zitate aus der Antike. In der Bibel lesen wir im Prediger Salomo (3,1-4): „(1) Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: (2) geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; (3) töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; (4) weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit […].“[2] Und im ersten Aphorismus des Hippokrates heißt es: „Das Leben ist kurz; die Kunst ist lang; der rechte Augenblick [kairos] geht schnell vorüber“. Hier sind also ärztliche Grundfragen angesprochen: Was ist die richtige, angemessene Zeit für Werden und Vergehen im Leben, wann ist der „rechte Augenblick“ (kairos) gekommen, um einzugreifen?

Wenn wir nun die Bedeutung der Zeit im Hinblick auf die Patient-Arzt-Begegnung in der heutigen Medizin besprechen wollen, was fällt uns dazu ein? Wahrscheinlich zunächst Stichwörter wie „Fünf-Minuten-Medizin“, „Überlebenszeit“, oder „vorzeitigen Blasensprung“. Oder die Redewendung, dass jemand „zu früh“ verstorben sei. Als mein Vater im Alter von 79 Jahren verstarb, meinte ein befreundeter Kollege und Klinikdirektor mit aufrichtigem Bedauern: „Aber das ist doch kein Alter!“ (Er wusste nicht, dass meine Familie einst sicher war, dass mein Vater aufgrund schwerer Erkrankungen wohl kaum das 60. Lebensjahr erreichen würde und wir alle erstaunt waren, dass er so lange gut leben konnte.)

Ökonomisierung und Digitalisierung haben dazu geführt, dass die Zeit immer dichter mit exakt messbarer Leistung ausgefüllt werden muss. Just in time und time is money sind somit auch für den Medizinbetrieb gültig, denken wir an Fallpauschale und „Verweildauer“ oder die normierten Handgriffe bei ambulanten Pflegediensten, was an den Taylorismus vor 100 Jahren erinnert. Können wir uns unter „Zeit“ überhaupt noch anderes vorstellen?

Werfen wir einen Blick in die Medizin- und Kulturgeschichte. Die Zeit geht unauflöslich mit der Natur einher, ist gewissermaßen identisch mit ihr. Erinnern wir uns an das verhüllte Standbild der Isis zu Sais im alten Ägypten, der als Göttin personifizierten Natur. Die Inschrift lautete nach Plutarch (in der Übersetzung von Kant): „Ich bin alles was da ist, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.“[3] (Folie 2) Die Bedeutung von Zeit und Natur ist uns heute letztlich so schleierhaft wie den Menschen vor Jahrtausenden und von einer gewaltsamen Enthüllung ist abzuraten, denken wir an Schillers großartige Ballade „Das verhüllte Standbild zu Sais“. Soweit meine Präambel. Ich möchte im Folgenden fünf verschiedene Dimensionen der Zeit skizzieren, bevor ich zu meinem Fazit komme. Diese Art Typologie habe ich eigens für diesen Vortrag entworfen, basierend auf meinen eigenen Arbeiten als Medizinhistoriker. Von Heidegger, Stephen Hawking oder anderen Zeit-Spezialisten verstehe ich zu wenig, um bei ihnen Anleihen machen zu können.

(1) Zyklische Zeit: Kosmische Korrespondenzen bei Gesundheit und Krankheit

Die Vorstellung einer zyklischen Zeit geht von sich regelmäßig wiederholenden Vorgängen aus, von einem Lebensrhythmus, der die menschliche wie außermenschliche Natur durchringt und von einer harmonischen Wechselwirkung der Naturdinge gekennzeichnet ist. Disharmonie bedeutet Störung und Krankheit. Seit Urzeiten ist für die Menschheit die Natur als Zeitgeberin allmächtig: die Tageszeit (Morgen, Mittag, Abend und Nacht), die Jahreszeit (Frühling, Sommer, Herbst und Winter), die Lebenszeit (Kindheit, Jugend, Erwachsen- und Greisenalter). (Folie) Analog hierzu hat die antike Wissenschaft und Medizin die Lehre von den vier Elementen (Luft, Feuer, Erde, Wasser) und den vier Säften (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim) und ihre jeweiligen Qualitäten hinzugefügt und damit ein System begründet, wonach die Medizin mit rationaler Kalkulation diagnostizieren, prognostizieren und therapieren konnte. (Folie 3) Die moderne Naturheilkunde fußt weitgehend auf diesem Erbe.

So heißt es beispielsweise in der hippokratischen Schrift „Die Natur des Menschen“: „Der Schleim wächst im Menschen im Winter. Von den Bestandteilen des Körpers ist er dem Winter am verwandtesten; denn er ist am kältesten [verglichen mit den anderen Säften]. […] Daß aber der Winter den Körper mit Schleim füllt, kann man an folgendem erkennen: was die Menschen im Winter speien und ausschneuzen, ist am schleimigsten. Auch werden die Schwellungen häufig in dieser Jahreszeit weiß, und auch die anderen Krankheiten werden schleimig.“[4] In der antiken Medizin spielte zudem die Lehre von den kritischen Tagen, an denen sich eine Krankheit entscheiden würde, eine große Rolle: etwa der 4.,7, 11. und 14. Tag nach Hippokrates oder der 7., 14., 20. und 27. Tag nach Galen (2. Jh.). Analog hierzu gab es die kritischen Jahre, so genannte Stufenjahre (anni climacterici). Auch hier war die Unglückszahl sieben maßgeblich, wobei das 63. Lebensjahr (7×9) als das gefährlichste galt.[5]

Die Korrespondenz zwischen Mikrokosmos (Mensch) und Makrokosmos (Welt) war noch in der frühen Neuzeit eine recht präsente Idee. So sprach Paracelsus, dass sich mit den Jahreszeiten alle Kräfte verwandelten „und ab- und zunehmen wie der Mond, und umgehen, wie ein Rad. […] Welches aber die rechte balsamische Zeit ist, in der die Kräfte bewahrt werden […] da ist unter den vier Jahreszeiten der Herbst am besten“. (Folie 4) Vor allem der bekannte englische Arzt und spekulative Naturphilosoph Robert Fludd hat in seinem Opus magnum diese Mikro-Makro-Kosmos Vorstellung im frühen 17. Jahrhundert ins Bild gesetzt. (Folie 5)

Es lag nahe, physiologische Befindlichkeiten und pathologische Störungen mit den äußeren Rhythmen der Natur in Beziehung zu setzen, wie es heute die Chronobiologie erforscht. Aber zugleich erfuhr der Mensch die Endlichkeit allen Lebens, vor allem seines eigenen Lebens, eine Zeitspanne, die mit dem Geborenwerden beginnt und dem Sterben endet. Dieses Werden und Vergehen wird traditionell in einem Lebensbogen vorgestellt, der einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende hat. Bekannt ist das Bild „Stufenjahre des Menschen“ um 1820, von dem es verschiedene Varianten gibt, hier biedermeierlich banalisiert: ohne Makrokosmos, Götter und die Siebenzahl. (Folie 6) Symbolträchtiger ist das Gemälde „Die Lebensstufen“ von Caspar David Friedrich aus dem Jahr 1836. (Folie 7)

Die zyklische Zeit war geprägt von einem kosmischen Rhythmus der sich bewegenden Himmelskörper, die nach Pythagoras die Sphärenharmonie (Harmonia mundi) erzeugten. Dieser Harmoniegedanke rückte Ende des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt eines der populärsten Heilkonzepte jener Epoche zwischen Aufklärung und Romantik: nämlich des „animalischen Magnetismus“ oder Mesmerismus, der von Franz Anton Mesmer in den 1770er Jahren in Wien begründet worden war. Ich will hier nicht auf die Einzelheiten dieses Konzepts eingehen, das zwischen 1780 und 1830 seine Blütezeit erlebte und die Wissenschafts- und Kulturgeschichte zutiefst beeinflusste. (Folie 8) Für Mesmer entsprachen Ebbe und Flut der Harmonie physiologischer Vorgänge im gesunden Körper. Wenn Letztere gestört waren, mussten sie durch eine so genannte magnetischen Kur wieder harmonisiert werden. Dementsprechend postu­lierte er eine ärztliche „Kunst, die periodische Ebbe und Fluth […] nachzu­ahmen“.[6] Mesmers Konzept lässt sich, ähnlich wie das eines Paracelsus oder Sigmund Freud, nicht auf einen einfachen Nenner bringen. Als akademisch gebildeter Arzt der Aufklärung war er – paradoxerweise — zugleich ein wichtiger Impulsgeber für die romantische Naturphilosophie. Als einer, der mit einem kosmischen „Fluidum“ („Allflut“) operierte, war er doch ein Vertreter der mechanistisch-physikalischen Lehre vom Organismus. Dies zeigt seine nüchterne Graphik zu den „Epochen des Lebens“, von der Geburt bis zum Tod. (Folie 9) Die „magnetische Kur“ konnte bestenfalls das der jeweiligen Lebensepoche angemessene Verhältnis von Bewegung und Ruhe wiederherstellen.

(2) Transzendierende Zeit: Annäherungen an die göttliche Natur

Nach Auffassung der Alchemie, welche in der frühen Neuzeit experimentelle Medizin und Naturforschung beflügelte, konnten im alchemistischen Laboratorium die natürlichen Prozesse der Stoffverwandlung beschleunigt werden: einerseits um Metalle zu veredeln und Gold zu erzielen, andererseits um so genannte arcana, spezifische Arzneimittel in höchster Potenz, herzustellen. In spiritueller Hinsicht ging es zugleich um eine Vergeistigung wie in einem Gottesdienst, letztlich um eine unio mystica, eine Vereinigung mit der göttlichen Weisheit, um Erleuchtung. Diesen Vorgang möchte ich deshalb transzendierende Zeit nennen, die heute allenfalls noch in Bereichen der esoterischen Medizin oder religiösen Heilkunde Beachtung findet.

Paracelsus war eine prägende Gestalt der frühneuzeitlichen Alchemie und natürlichen Magie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der – ähnlich wie Luther auf dem Gebiet des religiösen Lebens – Medizin und Naturforschung radikal reformieren wollte, von den Romantikern auch als Lutherus medicorum gefeiert. Die Alchemisten sahen die von Gott gegebene Natur selbst als eine große Alchemistin oder Magierin an, deren Werk durch alchemistische Kunst im Labor zu vollenden sei. Wie das Eisen durch das Feuer, durch vulcanus als Schmied, aus dem Eisenerz geschmolzen werden muss, so verhalte es sich mit der Arznei: „die ist geschaffen von Gott, aber nicht bereit’t bis aufs Ende, sonder in der Schlacke verborgen. Jetzt ist es dem vulcano befohlen, die Schlacke von der Arznei zu tun. […] Was die Augen am Kraut sehen ist nit Arznei, oder an Gesteinen oder an Bäumen. Sie sehen allein die Schlacke. Inwendig aber, unter der Schlacke, da liegt die Arznei. Nun muß am ersten die Schlacke der Arznei genommen werden, danach so ist die Arznei da. Das ist alchimia und das Amt vulcani. […] So nun das alles geschehen ist, daß die Arznei bereit’t ist nach Inhalt der Kunst alchimiae, so wird sie dem Kranken zugestellt, wie dem Gesunden sein Speis.“[7]

Solche alchemistischen Prozeduren im Bereich der Medizin hatten also nicht das Goldmachen zum Ziel, sondern die Herstellung des potenten Arzneimittels, das als arcanum bezeichnet wurde. Sie implizierten dreierlei: (1) eine Beschleunigung und Vollendung der Alchemie der Natur, (2) eine Entschlackung, Verfeinerung, gewissermaßen eine Vergeistigung der Wirksubstanz und (3) schließlich mit dem arcanum ein Eintauchen in die göttliche Atmosphäre. In einer Graphik habe ich versucht, diesen Prozess der transzendierenden Zeit im paracelsischen Konzept der Alchemie bildlich darzustellen. (Folie 10) Der Gesamtprozess verläuft vom Irdischen zum Himmlischen. „Das Arkanum ist ein gewaltiger Himmel in der Hand des Arztes“, meinte Paracelsus. „[…] es sei, daß alle alte Art absterbe und in die neue Geburt geführt werde, sonst werden da keine Arzneien sein. Das Absterben ist ein Anfang der Abscheidung des Bösen vom Guten. Also bleibt die letzte Arznei, das ist die neu geborene Arznei“.[8]

Ein beliebtes Symbol hierfür war die Jakobs- oder Himmelsleiter, womit der Aufstieg des Naturforschers (philosopus) auf den Stufen einer Leiter vorgestellt wurde, die ihn zum göttlichen Licht führte. Robert Fludd hat dies in einer Graphik von 1619 dargestellt. (Folie 11) Ein weiteres Symbol war die Goldene Kette (Catena aurea) in Anlehnung an Platon, welche die den Menschen mit der schöpferischen Natura und diese wiederum mit Gott verband, dargestellt als himmlisches Feuer über den Wolken. (Folie 12) Diese hierarchische Trias Gott–Natur–Mensch war für das Menschen- und Weltbild der alchemistisch-magischen Medizin und Naturforschung grundlegend.

(3) Aufgebrochene Zeit: Zum Eingreifen geistiger Mächte in der Medizin      

Es gibt unvorhergesehen Ereignisse, sowohl krankmachende als auch heilende, die als Einfälle, Anfälle, Besessenheit von Mächten wahrgenommen werden, die den einzelnen Menschen von außen zu ergreifen scheinen und seinen zeitlich geordneten Lebenslauf schlagartig durcheinanderwirbeln und in Frage stellen. Diese Situation, in welcher der gewohnte Gang der Dinge jäh unterbrochen wird, nenne ich die aufgebrochene Zeit. Wohl jeder von uns hat mit entsprechenden Erschütterungen so seine Erfahrungen gemacht, wobei eher die Unglücksfälle als an die Glücksfälle im Gedächtnis haften bleiben, wie etwa von der psychoanalytischen Neurosenlehre oder bei der Posttraumatische Belastungsstörung beschrieben.

Doch im Folgenden wollen wir uns in medizinhistorischer Perspektive den „geistigen“ oder „dämonischen Mächten“ zuwenden und nicht Gewalttaten von Menschen oder Naturkatastrophen. Gute Geister oder Dämonen werden mit eudaimonia (Sokrates),  „Enthusiasmus“, „Ekstase“, „Schutzengel“ usw. in Verbindung gebracht, böse mit „Teufel“, „Nachtgeister“, „Gespenster“ usw., von denen der Mensch besessen werden kann, wenn er nicht aufpasst. Der normale Fortgang der Zeit wird dadurch empfindlich gestört. Auf die Wiederherstellung der gestörten Zeit durch Methoden des Exorzismus möchte ich hier nicht näher eingehen, ein faszinierendes Kapitel aus der Vorgeschichte der Psychotherapie und Psychoanalyse. (Folie 13) Zukünftige Ereignisse wie Krankheit,  Krieg oder Seuche wurden in der Antike durch die Weissagekunst (Mantik) prognostiziert, die am Anfang der systematischer Naturforschung stand: Astrologie bzw. Astronomie,  Leberschau, Vogelschau, Traumdeutung und dergleichen. Die Geburt von Monstren oder das Auftreten von Kometen kündigten noch und gerade im Zeitalter der Reformation nahendes Unheil oder gar den Weltuntergang an.

Aufgebrochene Zeit bedeutet auch, dass Phänomene, die wir heute an die Parapsychologie verweisen wie Hellsehen, visionäre Prophezeiungen, telepathische Fernheilungen oder Geisterseherei tatsächlich erlebt werden, die im „normalen“ Alltagsleben unmöglich erscheinen – also Ereignisse, welche die gewohnten Zeitabläufe überfliegen können, sodass diese „nichtig und klein“ erschienen wie in Reinhard Meys Lied „Über den Wolken“. Wir sind hier mit Phänomenen der natürlichen Magie, der Magie der Natur (Magia naturalis) konfrontiert, die in der romantischen Naturphilosophie und Medizin um 1800 noch einmal eine Blütezeit erlebte. Dies lässt sich am anthropologischen Schema der „Tag- und Nachtseite“ des renommierten Medizinprofessors Dietrich Georg Kieser ablesen, wo an den äußersten Enden die Zeit durch Hellsehen, von Carl Gustav Carus auch „Fernsehen“ genannt, aufgebrochen werden kann. (Folie 14) Besonders fasziniert waren romantisch inspirierte Ärzte vom „Somnambulismus“ bestimmter Patienten (vor allem Patientinnen), die ihnen vermeintlich einen Zugang zur Ursprache, zur Hieroglyphensprache der Natur oder gar zur Geisterwelt verschafften. Paradigmatisch hierfür ist die Krankengeschichte des Arztdichters Justinus Kerner „Die Seherin von Prevorst“ (1829). (Folien 15 und 16)

(4) Totalitäre Zeit: Zur Dogmatik der naturwissenschaftlichen Medizin

Seit dem Zeitalter der Aufklärung bildete sich vor allem im Verlauf des 19. Jahrhunderts im Kontext der industriellen Revolution und ihrer wissenschaftlich-technischen Innovationen ein ungeheurer Fortschrittsglaube heraus, der auch die aufblühende naturwissenschaftliche Medizin unter dem Eindruck von Darwinismus und Bakteriologie erfasste. Die Naturwissenschaft als quasi neue Religion sollte nach dem Willen der Monisten die Menschheit bereits im Diesseits erlösen. Diese alle Welträtsel umspannende Zeit, die keinen Raum für andere, insbesondere religiöse Zeitdimensionen zuließ, nenne ich wegen ihres Anspruchs der Ausschließlichkeit „totalitäre Zeit“.

An dieser Stelle möchte ich eine Anekdote erzählen. Vor einigen Jahren Zeit besuchte ich den Vortrag eines Theologen, der sich u. a. mit der Problematik des Hirntods befasste. In der Diskussion meldete sich ein älterer Arzt zu Wort, der dem Auditorium sehr vehement erklärte, dass mit dem Tod – und der Hirntod sei ein solcher – „alles aus, alles vorbei“ sei, das sei ganz klar wissenschaftlich bewiesen und daran sei nun einmal nicht zu rütteln. Seine erkennbare Emotion provozierte mich zur spontanen Frage: „Woher wissen Sie das denn so genau?“ Seine Antwort lautete ebenso spontan: „Ich glaube das!“ Woraufhin ich belustigt bemerkte: „Aha, Sie glauben das, dann bin ich beruhigt!“ Und das Auditorium musste lachen.

Diese Glaubensgewissheit des Kollegen lässt sich wissenschaftshistorisch einordnen. Die Fortschritte von Wissenschaft und Technik im Laufe des 19. Jahrhundert führten zur Idee, dass die Religion der Zukunft die rationale, empirische Naturwissenschaft sein sollte, was im biologischen Monismus mündete und zur Gründung des Deutschen Monistenbunds durch Ernst Haeckel Anfang des 20. Jahrhunderts führte. Kennzeichnend war die totalitäre Zeitvorstellung: eindimensional alle anderen Vorstellungen ausblendend, die nicht zum evolutionären Fortschrittsmythos passten, der in Haeckels pädagogischen Sinnbildern zum Ausdruck kam: etwa im Stammbaum des Menschen (Folie 17).

Der Molekularbiologe Jens Reich fragte in einem ZEIT-Artikel von 2008 unter der Überschrift „Medizin: Leben und Vergehen“, „ob die moderne Biomedizin grundsätzliche Fehlstellen aufweist. Drei Stichworte umreißen die Antwort: Der unvollkommene Körper. Das Alter. Der Tod.“[9] Die „blinde Kraft der Evolution“ – und gerade kein intelligenter Designer – habe zum unvollkommenen Körper geführt, dessen „vernünftiges Enhancement“[10] man kaum „überzeugend begründet ablehnen“ könne. Das biologische Altern sei rätselhaft, möglicherweise eher durch einen gezielten Abbau als durch Verschleiß bewirkt. Überhaupt sei ein Rätsel, „wie sich die Einheit des gesamten Organismus herstellt.“ Und der Tod sei, nach der Erkenntnis der „Apoptose“, des programmierten Zelltods, für die Molekularbiologie „ein Programm und kein Zerfall“. Es ist in meinen Augen frappierend, dass die heutige Molekularbiologie von einem Zusammenspiel ungezählter Regulationsvorgänge ausgeht und dies im Einzelnen immer genauer erforscht, aber letztlich Werden und Vergehen, die biologisch inhärente Zeitstruktur des Organismus, den „Sinn“ derselben, nicht oder noch erklären kann. Der Tod müsste doch als die größte Absurdität das evolutionsbiologische Denken aufwühlen, denn welchen Sinn soll die Evolution des Lebens ergeben, wenn am Ende der Tod steht – spätestes mit dem Verglühen der Erde? Die Wissenschaft muss wohl solche abgründig-existenzielle Fragen ausblenden, um sich gegen das Absurde, wie es ein Albert Camus verstand, zu immunisieren.

(5) Vertriebene Zeit: Illusionen vom Werden ohne Vergehen

Schließlich soll noch ein eigentümliches Bestreben der Menschen beleuchtet werden, das gerade für die Medizin seit alters her eine große Herausforderung aber auch ein lukratives Betätigungsfeld darstellt. Ich meine den Versuch, die Zeit des Vergehens anzuhalten, zurückzudrehen, vergessen zu machen. Oder anders gesagt: Ein Werden ohne Vergehen zu produzieren. Ich nenne dies die vertriebene Zeit, wir könnten hierzu auch die Ausdrücke „Zeitvertreib“ und „die Zeit totschlagen“ assoziieren. Damit ist keineswegs nur die plastische Chirurgie, insofern sie Schönheit und Verjüngung produziert, befasst, sondern auch ein riesiger außermedizinischer Bereich, von der Kosmetik- bis zur Wellness-Industrie.

Wir sind mit dem uralten Wunschtraum der Menschheit konfrontiert: dem Jungbrunnen. Lucas Cranach d. Ä. hat diesen Traum 1546, dem Todesjahr von Martin Luther, in seinem berühmten Gemälde dargestellt. (Folie 18) Links werden die (weiblichen) Gebrechlichen, Kranken und Alten zum Brunnen herangekarrt, rechts verlassen sie ihn als junge Schönheiten, die sich wieder den irdischen Freuden hingeben können. Solche Verjüngungsphantasien sind wohl so alt wie die Menschheitsgeschichte und wurden und werden in der Medizin in vielfältiger Form konkret verwirklicht. Als Beispiel wäre der Aufstieg der plastischen Chirurgie, der so genannten Schönheitsoperationen, im 20. Jahrhundert zu nennen. So korrigierte schon vor 100 Jahren der geniale (jüdischen) Arzt Jacques Joseph („Nasenjoseph“, „Noseph“) in seiner Berliner Praxis unschöne Ohren, Nasen und schlaffe Gesichter, wogegen er seine Face-lifting-Methode empfahl. (Folie 19) Gegenwärtig ist Anti-Aging ein großes Thema, auch im Hinblick auf die Männer. (Folie 20) Vor allem Botox-Einspritzungen gegen Gesichtsfalten, die alt aussehen lassen, sind en vogue. (Folie 21)

Der Kampf gegen das Altern hat heute eine kaum überbietbare Intensität erreicht, und die Medizin spielt hierbei eine zentrale Rolle. Sie soll es schaffen, die Zeichen der Natur, abgesehen von denen der Kultur, unkenntlich zu machen, zu retouchieren, neu zu justieren, um die Zeit zu vertreiben. Die Signaturen an der Körperoberfläche werden gegenüber der Körperphysiologie verfälscht, sie sollen äußerlich etwas vorspiegeln, was im Inneren nicht oder nicht mehr vorhanden ist. Insofern gleicht diese Art von Medizin einer Illusionskünstlerin, welche die Bedürfnisse ihrer Kunden gewinnbringend befriedigt.

Werden ohne Vergehen, leben ohne zu sterben entspricht nicht nur dem erwähnten Traum vom Jungbrunnen, sondern auch dem allgemeinen Versprechen der Medizin, dass Vergehen, Absterben und letztlich den Tod – wenn auch nur punktuell – zu neutralisieren. Es geht wie gesagt darum, den Verfallsprozess des Körpers aufzuhalten und sein absolutes Vergehen im Tod möglichst lange hinauszuschieben. Hierzu fällt mir die Schauergeschichte „Tatsachen im Fall Waldemar“ von Edgar Allen Poe ein, wo der Verfallsprozess bei einem Sterbenden bzw. Toten sieben Monate lang durch Magnetisieren scheinbar aufgehalten wird, bis der Leichnam als stinkende Masse zerfließt.

Besteht nicht gerade darin, nämlich den Verfall aufzuhalten, das Vergehen hinauszuschieben, das legitime Hauptgeschäft der Medizin? Wo aber liegen die vernünftigen Grenzen? Ich meine, dass nur eine Rückbesinnung auf die conditio humana, auf unsere anthropologische Verfasstheit möglicherweise weiterhelfen kann. Wir haben demütig einzusehen, dass unsere Lebenszeit begrenzt ist, in der eine ständiges Werden und Vergehen passiert, und dass wir nicht über diesen Zeithorizont hinausschauen können, so lange wir unser irdisches Leben führen – obwohl wir die meisten von uns in der einen oder anderen Weise ahnen, erhoffen, befürchten oder glauben, dass sich das Leben nicht darin erschöpft. Sigmund Freud hat diese Problematik einmal in einer wunderbaren Wendung auf den Punkt gebracht. In der Psychoanalyse könne, so seine Formulierung, „der Ausspruch gewagt werden: im Grunde glaube niemand an seinen eigenen Tod oder, was dasselbe ist: im Unbewußten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt.“[11]

Schlussbetrachtung

Zum Schluss ein eigenes Foto im Hintergrund zur Entspannung. (Folie 22) Angesichts meines Versuchs einer typologischen Auffächerung der Zeitvorstellungen stellt sich die Frage: Wofür sollen wir uns bei der Begegnung von Arzt und Patient entscheiden, wenn wir diese „zeitlich kultivieren“ wollen? Ich bin der Meinung, dass keine einzelne Dimension die anderen beherrschen oder ausblenden darf. Eher kommt es auf eine synoptische, sympathetische, synästhetische „Ahn(d)ung“ an, um diesen beliebten Ausdruck in der romantischen Naturphilosophie zu gebrauchen. Wahrscheinlich kann diese „Ahn(d)ung“ nur durch Selbstanalyse gewonnen werden, die historisch zu relativieren vermag und vor doktrinärer Verengung (und Humorlosigkeit) schützt. Nur dann kann in meinen Augen eine geglückte Begegnung von Arzt und Patient zustande kommen, wenn für die verschiedenen Zeitdimensionen ein Resonanzraum offensteht, in dem angeschlagene Töne gemeinsam gehört werden können. Auch wenn heute die zyklische, transzendierende und aufgebrochene Zeit gegenüber der totalitären und vertriebenen Zeit fast in Vergessenheit geraten sind, gehören die drei Erstgenannten unausrottbar zu unserer anthropologischen Grundausstattung: nämlich die Wahrnehmung des Rhythmus in den Naturvorgängen, das Herausdestillieren der Heilkraft durch rituelle Übungen und die Erfahrung von dämonisch anmutenden Glücks- und Unglücksfällen, die den bisherigen Lebenslauf aus den Angeln heben.

Zeitliche Kultivierung der Begegnung von Arzt und Patient kann nicht auf einer Einbahnstraße erreicht werden: nämlich vom Arzt in der Rolle des Experten zum Patienten in der Rolle des zu erziehenden „edlen Wilden“. Patienten haben ihre eigene Expertise und ihre eigenen Erfahrungen mit der Zeit. Es hängt nun von der Kunst des Arztes ab, sich für die verschiedenen Dimensionen oder Typen des Zeiterlebens seines Patienten so zu öffnen, dass eine Resonanz, ein gemeinsames Hören, möglich wird. Unter Umständen muss er, der Arzt, alle möglichen wissenschaftlichen Theorien und praktischen Behandlungsrichtlinien ein Stück weit vergessen, um die notwendige Offenheit zu erreichen. Aber wie überhaupt bei zwischenmenschlichen Begegnungen: Letztlich hat der Arzt es nicht, zumindest nicht alleine, in der Hand, ob die Begegnung wirklich glückt – das heißt vor allem: heilsam wirkt.

Ich möchte mit einer Anekdote schließen. Der bekannte US-amerikanische Medizinjournalist Norman Cousins, der über Albert Schweitzer einige Schriften verfasst hat, unterhielt sich einmal mit diesem in Lambarene über die Heilerfolge von Medizinmännern. „Als ich Albert Schweitzer fragte, wie er sich erkläre, daß überhaupt jemand nach der Behandlung durch einen afrikanischen Medizinmann hoffen könne, gesund zu werden, sagte er, ich verlangte von ihm, ein Geheimnis zu enthüllen, das die Ärzte schon seit Hippokrates mit sich herumtrügen. ‚Aber ich will es ihnen trotzdem verraten‘, sagte er […] ‚Der Medizinmann hat aus dem gleichen Grund Erfolg wie wir [Ärzte] auch. Alle Patienten tragen ihren eigenen Arzt in sich. Sie kommen zu uns, ohne diese Wahrheit zu kennen. Wir sind dann am erfolgreichsten, wenn wir dem Arzt, der in jedem Patienten steckt, die Chance geben, in Funktion zu treten.“[12] Eine treffendere Aussage zu unserem Rahmenthema kann ich mir kaum vorstellen.

[1] Vortrag im Rahmen des Symposiums „Zur Bedeutung der Zeit für in der Medizin“ in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in Berlin am 10. bzw. 11.02.2017 (Folie 1)

[2] Zit. n. der Lutherbibel 1984: https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lutherbibel-1984/bibeltext/bibelstelle/pred3,14/ (3.01.2017)

[3] Zit. n. Heinz Schott: Magie der Natur. Historische Variationen über ein Motiv der Heilkunst. Aachen: Shaker, 2014, Teilband 1, S. 24/9

[4] Hippokrates: Schriften. Die Anfänge der abendländischen Medizin. Übersetzt […] und herausgegeben von Hans Diller. Hamburg: Rowohlt, 1962 (Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft; Griechische Literatur; Bd.4), S. 171 f.

[5] Handwörterbuch das Deutschen Aberglaubens. Hg. von H. Bächthold-Stäubli. Bd. 8. Berlin; Leipzig: de Gruyter, 1936/37, Sp. 562 f.

[6] A. a. O., S. 14.

[7] Paracelsus: Labyrinthus medicorum errantium. In: Vom Licht der Natur und des Geistes. Eine Auswahl. Hg. von Kurt Goldammer. Stuttgart: Reclam, 1979 (Universal-Bibliothek nr. 8448 [3], S. 33-96, hier S. 58 f.

[8] Paracelsus: Opus paramirum; Zit n. Helmut Hiller: Paracelsus-Lexikon. Anger: Anger Verlag Eick, 1996, S. 29.

[9] DIE ZEIT, 20. März 2008 Nr. 13;  http://www.zeit.de/2008/13/Edi-Reich-Nachwort (3.01.2016).

[10] Anführungszeichen im Original.

[11] Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915); http://www.textlog.de/freud-psychoanalyse-verhaeltnis-tode.html (3.01.2017)

[12] Norman Cousins: Der Arzt in uns selbst. Die Geschichte einer erstaunlichen Heilung – gegen alle düsteren Prognosen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983 (Rororo; 7828: rororo-Sachbuch), S. 71f.

Mesmerism, Sexuality, and Medicine: ‘Karezza’ and the sexual reform movement (2014)

This paper (text see below) was prepared for a session of the Annual Meeting of the History of Sience Society (HSS) in Chicago, November 8, 2014.

This paper is essentially based on a chapter of my Magic of Nature Blog written in German.

The revised paper has been published in the Journal of Cultural and Religious Studies (ISSN 2328‐2177), David Publishing Company, probably in 2015, click here for downloading the PDF file.

Anmerkung von 18.08.2016:

Some Details on Stockham’s Karezza-Book you find in my Supplementary News Blog.

Below you find my paper:

Link to the slides

Mesmerism, Sexuality, and Medicine:

‘Karezza’ and the sexual reform movement[1]

 

Within the scope of certain social and religious movements mesmerism had a considerable impact on the American way of life during the last decades of the 19th century. A famous example is the Christian Science of Mary Baker Eddy. But also less known groups adopted mesmeric ideas and practices. The paper focuses on the concept of ‘Karezza’. It combined a specific sexual practice with religious ideas of divine love, birth control, social reform, women’s emancipation and health education. It was created by Alice Bunker Stockham (1833-1912), an obstetrician and gynecologist from Chicago, an enthusiastic fighter for a marital and sexual reform. (3 slides) “Karezza” was taken from the Italian term “carezza” (written with a “c”) meaning petting or very gently striking. Stockham was the fifth woman in the U.S. A., who got the degree of a Medical Doctor. Apart from her special field gynecology and obstetrics she was engaged in charity and interested in spiritual topics. She also practised homeopathy, fought against alcoholism, served probably sometimes as a trance medium and was an active feminist, a suffragette.[2] In 1886, she published a book on the health of women: „Tokology. A Book for Every Woman“ with several editions and translations into foreign languages. (slide) Lev Tolstoi, a friend of Stockham, was so impressed, that he initiated a translation of the book into Russian and wrote a preface.[3] He supported her approach wholeheartedly. In 1900, she published by her own press the study “Tolstoi – A Man of Peace” (slide), together with the Tolstoi study of Havelock Ellis, the well-known English sexologist. (slide)

Stockham’s concept of Karezza

Stockham adhered to the so called “New Thought Movement”. In 1886, she joined the first course on Christian Science organised by Emma Hopkins in Chicago. Many renowned women supported this movement, which was separated into two parties. One party refused strictly any sex appeal, whereas the other one backed by Stockham tried to let it worthily perform.[4] In 1896, she published in her own press a book titled „Karezza. Ethics of Marriage“.[5] (slide) A German translation appeared one year later. The translator, a certain Dr. Hartung, general practitioner in Silesia, praised Stockahm as a “soul-curing physician of mankind authorized by her science”.[6] He just stressed in his preface Stockham’s principles of healing and nutrition without mentioning her natural philosophical and religious ideas.[7] The well known Swiss life reformer and naturist Werner Zimmermann translated it once again almost 30 years later.[8] (slide)

Stockham was convinced, that there was a tremendous difference between the usual copulation and the Karezza conjunction or merging. She opposed them fundamentally as the following quotations show: „The ordinary hasty spasmodic method of cohabitation, for which there has been no previous preparation, and in which the wife is passive is alike unsatisfactory to husband and wife. It is deleterious both physically and spiritually. It has in it no consistency as a demonstration of affection, and is frequently a cause of estrangement and separation“.[9] In contrast the Karezza merging would be satisfactory, healthy, and heaven on earth: “During a lengthy period of perfect control, the whole being of each is merged into the other, and an exquisite exaltation experienced. This may be accompanied by a quiet motion, entirely under subordination of the will, so that the thrill of passion for either may not go beyond a pleasurable exchange. […], with abundant time and mutual reciprocity the interchange becomes satisfactory and complete without emission [i.e. ejaculation] or crises. In the course of an hour the physical tension subsides, the spiritual exaltation increases, and not uncommonly visions of a transcendent life are seen and consciousness of new powers experienced.”[10]

Stockham combined a vitalistic principle with a spiritualistic or mental one. She argued, that the „creative power“ or „energy“ could and should be mentally controlled and ruled. In her opinion, the human was free to choose “voluntarily and consciously […] between these two roads, – the spiritual or material.”[11] In fact: „Religion and philosophy are required in consecrating passion.”[12] Her key sentence or motto claimed: „In no way does man’s dominion yield him richer return than in control, mastery and consecration of sex energy. […] Through love, training and self-control […] the married may not only attain the same conservation and appropriation [as the unmarried] but also by the union of the spiritual forces of their two souls, greatly augment them.”[13] Stockham stressed the positive effects of those forces: „There is no limit to the power of a true soul union. It specifically increases the gift of healing and may be purposely directed to free a friend from pain and suffering.”[14] „Karezza“ would signify „to express affection in both words and actions“. So, it was “used technically […] to designate a controlled sexual relation.”[15]

Stockham described this love technique rather exactly and distinguished it from other techniques, which might be confused with Karezza. So she pointed out, that in her book „Tokology“ she had erroneously referred to „Sedular Absorption”.[16] But now she highlights: „in Karezza there is no seed to be absorbed, as, under the direct control of the will, the act ceases short of the seed secreting period”. She criticized also the term „Male Continence“, because Karezza required a female continence as well.

She called it „a symbol of the perfect union of two souls in marriage, it is the highest expression of mutual affection, and gives to those practicing it revelations of strength and power.”[17] Karezza would contribute to „individual development and formation of character“ and would not lead to „ascetism and repression“. [18] Stockham argued like all contemporary life reformers and race biologists naturalisticly and quoted according to the English evolutionary theorist Herbert Spencer the “law of being” (i.e. the “law of nature”) the following of which ends up in pleasure, whereas “all our sufferings come from ignorance of the law of being”.[19]  Stockham stressed again and again, that Karezza was really possible. In the supplement of her book headed “Corroboration” she quoted from hundreds of letters some „testimonies“ for evidence of her doctrine.[20] “At all times to subordinate physical senses and desires to the spiritual is a matter of education and growth in the knowledge of the laws of being – a knowledge of the power of the spiritual nature.“[21]

Stockham did not respond to the then well-known techniques of hypnosis and suggestion. But she complied implicitely with their principles. All physiological functions and vital processes could be influenced „by a voluntary mental effort“.[22] She criticized the doctrine, according to which those physiological functions would work automatically and were inflexibly fixed. She was aware of the imagination, which was ascribed to the placebo effect later on: „The thought of some stimulant or medicinal preparation has an effect similar to that of the thing itself, even if less in degree.”[23] Karezza would teach the “supreme action of the will over the sexual nature, as well as the complete appropriation of the creative energy to high aims.“[24] The retention and absorption of the semen would strengthen the male organism and add „enormously to man’s magnetic, mental and spiritual force.”[25] She disclaimed the traditional dogma whereby the retention of seminal fluid is harmful.

In the view of Stockham, Karezza was a panacea with great therapeutic value „not equalled by any remedy of pharmacopoeia, or by any system of healing.”[26] She praised the ideal of marital love: „the truly married consummate this union with perfect freedom and naturalness.“[27] Finally Stockham’s sexual doctrine focussed on the fulfilment of natural laws. She did not demand the repression of the sexual instinct, but viewed sexuality as a deep bond of the human with the macrocosm, the whole world. Karezza would conduce „to the building of character and spiritual growth and at the same time the sexual functions are honoured, refined and dignified.”[28] Obviously, as a practicing doctor Stockham was a sought-after counsellor for problems of matrimony and sexuality. She encouraged numerous people to practice the Karezza method.

She referred to a series of other authors publishing about 1900 in the United States. Obviously, in this „country of unlimited possibilities“ Karezza appeared to be much more attractive than elsewhere, especially in Europe, because its concept combined natural philosophical, eugenic, and especially religious motives. So, Stockham edited the already in 1890 anonymously published novella „The Strike of a Sex and Zugassent’s Discovery“ by George Noyes Miller, a former member of the Oneida Community, mentioned by some correspondents in her Karezza book.[29] Moreover, she pointed to other protagonists of the American sexual reform movement like Henry Wood, Warren F. Evans und Ursula N. Gestefeld.

Miller’s hero of his novella Immanuel Zugassent discovers the physiological and spiritual benefit by conscious control of the sexual function. The author compared „Zugassent’s Discovery“ with scientific-technical innovations at that time like steam-engine, electricity, and telephone.[30] This discovery able to reduce human misery would even dwarf discoveries like those of Jenner, Harvey, Pasteur, or Koch.[31] Miller’s quasi religious plea for a spiritual domestication of the animal instinct addressed mainly the social calamity produced by the lack of birth control. At the same time Miller relied on the practice of mesmerism and hypnotism which he did not discern. But that confusion was quite common in the contemporary folk or lay medicine. Miller’s position implied certain social political and social medical objectives corresponding to Stockham’s approach. When Zugassent explains that all experiences would show „the power of the will over the involuntary processes of the body“, this reminds us of James Braid’s key formula, namely „the power of the mind over the body“.[32] Miller argued in the sense of naturopathy (Naturheilkunde) and marital reform aiming at a conscious birth control. The dissipation of life and nerve force by uncontrolled sexuality might be one day assumed to be as absurd as the traditional bloodletting in the past.[33] Instead of such a devious practice „the innocent magnetic exchange“ should intervene between the marital partners. This was also named „sexual magnetism“ leading to the highest spiritual growth, also to „welfare and happiness of others“, and participating in the divinity.[34] The sexual self-control was compared with the performance of a boatman on a stream showing first quiet water, then rapids and finally a waterfall. Now, it depends on the skill of the boatman, how far he dares to approach the waterfall without losing the control and being pulled down into the abyss. His skill has to confine “his excursions to the region of easy rowing“.[35]

The reception of Stockham’s work

There were a very few celebrities appreciating Stockham’s Karezza method. We should mention at the first place the Russian writer Leo Tolstoy, a personal friend of Stockham as already noted. Another authority being open minded to Karezza was the English sexologist Havelock Ellis, who corresponded also with Sigmund Freud on the problem of sexuality and anticipated the concept of auto-erotism and narcissism. Freud cited him often, especially in his “Interpretation of Dreams”. It is remarkable but not astonishing, that Freud himself did not take any notice of Stockham, who did not belong in academia. But much more astonishing is the fact, that sexology (Sexualwissenschaft) and sexual medicine (Sexualmedizin) enfolding in the early 20th century and also the respective scientific debate following the so-called sexual revolution of the 1960s ignored Karezza almost completely. Even the recent feministic movement and the correspondent gender debate forgot about Stockham.

In general, Stockham’s work seemed to be suspicious, either for biological reasons as an inappropriate method of sexual satisfaction or for moral reasons as an unnatural method contradicting divine laws. The most prominent opponent for moral reasons was the papal authority. Forty years after her death in 1912, Pope Pius XII. rejected a so-called “reserved embrace” referring indirectly to Karezza, which was forbidden for priests and spiritual directors to recommend. In his “allocution to midwives” in 1951 he cited Pope Pius XI’s Encyclical Casti Connubii (chaste wedlock) in 1930: “…that every attempt of either husband or wife in the performance of the conjugal act or in the development of its natural consequences which aims at depriving it of its inherent force and hinders the procreation of new life is immoral and that no ‚indication‘ of need can convert an act which is intrinsically immoral into a moral and lawful one. / The precept is in full force today, as it was in the past, and so it will be in the future also, and always, because it is not a simple human whim, but the expression of a natural and divine law.”[36]

I think it’s worthwhile to remember Alice B. Stockham, an outstanding doctor and philanthropist, who practised in a humanistic manner in Chicago fighting for a better life, and who died here about 100 years ago. Apart from her published writings I could not detect any archival material like correspondences or manuscripts in the United States or elsewhere. I was told, that nothing is left in any US repository. (slide) Please, contact me, if you know anything about unknown material. Nevertheless, it is remarkable, that in certain esoteric circles her Karezza book is still on sale. (2 slides) It is time, that the scientific community recognizes her important idea of a spiritual or mental emancipation from sexual bestiality. I think, that Stockham may become a fascinating figure for the medical and cultural historiography in the overlapping areas of natural philosophy and religious thinking, mesmerism and psychoanalysis, medical anthropology and sexology, feminism and social hygiene, and last but not least humanism and pacifism. It is time to rediscover her life and work.

[1] Paper, given at the Annual Meeting of the History of Sience Society (HSS) in Chicago, November 8, 20914.

[2] http://www.reuniting.info/wisdom/stockham_karezza (14.12.2010).

[3] Beryl Sattler: Each Mind a Kingdom. American Women, Sexual Purity, and the New Thought Movement, 1875-1920. Berkeley; Los Angeles; London: University of California Press, 1999, p. 136.

[4] Ibid., diagram.

[5] Alice Bunker Stockham: Karezza. Ethics of Marriage. Chicago: A. B. Stockham & co., 1896; online: http://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=nyp.33433075969281;view=1up;seq=13 [page numbers in brackets refer to EPUB online: http://www.globalgrey.co.uk/Pages/Books-Sacred-Sexuality/Karezza-Ethics-Of-Marriage.html#.VFVPFxZ4D8g].

[6] Alice Bunker Stockham: Die Reform-Ehe. Ein Mittel zur Erhöhung der Daseinsfreude und zur Veredelung des Menschengeschlechts. Autorisirte deutsche Uebersetzung von H. B. Fischer. Vorrede: Dr. Hartung. Hagen i.W.: Risel, 1897, p. VII.

[7] Ibid., pp. IX-XI.

[8] Alice Bunker Stockham: Ethik der Ehe. Karezza. Berechtigte Übersetzung aus dem Amerikanischen von Werner Zimmermann. Jena; Bern: Die Neue Zeit, 1925.

[9] Alice Bunker Stockham: Karezza. Ethics of Marriage [originally published in 1896]. New and revised edition. New York. Fenno, ca. 1903, p. 23 [p. 8].

[10] Ibid, p. 26 [p. 9].

[11] Ibid., p. 10 [p. 3].

[12] Ibid., p. 17 [p. 6].

[13] Ibid., p. 20 [p. 6].

[14] Ibid., p. 20 [p. 7].

[15] Ibid., p. 22 [p. 8].

[16] Ibid., p. 26 [p. 9].

[17] Ibid., p. 27 [p. 10].

[18] Ibid., p. 28 [p. 10].

[19] Ibid., p. 31 [p. 11].

[20] Ibid., pp. 113-140 [pp. 45-61].

[21] Ibid., p. 32 [p. 12].

[22] Ibid., p. 34 [p. 12].

[23] Ibid., p. 35 [p. 13].

[24] Ibid., p. 38 [p. 14].

[25] Ibid., p. 43 [p. 16].

[26] Ibid., p. 48 [p. 18].

[27] Ibid., p. 83 [p. 32].

[28] Ibid., p. 85 [p. 33].

[29] Ibid., 106-133 [pp. 54-57]; George Noyes Miller: The Strike of a Sex and Zugassent’s Discovery, or After the Sex Struck. New and rev. ed. Chicago, Ill.: Stockham Publishing, 1905 [“Zugassent’s Discovery” cf. pp. 93-118].

[30] Miller, ibid., p. 109.

[31] Ibid., p. 103.

[32] James Braid: The Power of the Mind over the Body.1846. In: Readings in the History of Psychology. Compiled and edited by Wayne Dennis. New York. Appleton-Century-Crofts, 1948, pp. 178-193.

[33] Miller, ibid., p. 111.

[34] Ibid., p. 118.

[35] Ibid., p. 113.

[36] http://en.wikipedia.org/wiki/Alice_Bunker_Stockham#cite_note-5 (Sept. 29, 2014)