Justinus Kerner (1786-1862): Dichter, Arzt und Naturforscher (2021) — TEIL 2

Kerner als Dichter und Literat

Als Medizinstudent in Tübingen (1804–1808) bildete Justinus Kerner zusammen mit seinem Freund Ludwig Uhland einen Freundeskreis, der große Ausstrahlung erlangen sollte, der in der Literaturwissenschaft als „schwäbische Romantik“ bezeichnet wird. Auf der bekannten Abbildung, die allerdings sehr viel später entstanden ist und eine Szene in Kerners Garten in Weinsberg darstellt, sieht man ihn in der Mitte mit Stock, flankiert von den beiden Dichtern Nikolaus Lenau (links sitzend) und Ludwig Uhland (rechts sitzend), im Hintergrund links Sohn Theobald und rechts Ehefrau Friederike („Rickele“) (Abb. 3: Freundeskreis). Neben seinen medizinischen Schriften, die aus seiner ärztlichen Tätigkeit erwuchsen, veröffentlichte er Gedichtbände, Erzählungen und schließlich eine Mesmer-Biographie, die sein schriftstellerisches und dichterisches Können belegen. Kerners Gedichte haben als Liedtexte zum Teil große Popularität erlangt.

So verfasste er als 20-jähriger Student in Tübingen das „Wanderlied“ (1808), vielleicht das populärste seiner Gedichte. Hier die beiden ersten Strophen, die den meisten bekannt sein dürften:

Wohlauf! noch getrunken den funkelnden Wein!
Ade nun, ihr Lieben! geschieden muß sein.
Ade nun, ihr Berge, du väterlich‘ Haus!
Es treibt in die Ferne mich mächtig hinaus.

Die Sonne, sie bleibet am Himmel nicht stehn,
Es treibt sie, durch Länder und Meere zu gehn.
Die Woge nicht haftet am einsamen Strand,
Die Stürme, sie brausen mit Macht durch das Land.

1840 komponierte dann Robert Schumann den Zyklus »Zwölf Gedichte von Justinus Kerner für Singstimme und Klavier« (op. 35), darunter auch das „Wanderlied“ (Nr. 3) in B-Dur.

1818 schuf Kerner den Text zur „Schwaben-Hymne“, die auch heute noch in Württemberg beim geselligen Beisammensein gerne gesungen wird, hier die erste und die beiden letzten Strophen:

Preisend mit viel schönen Reden

Ihrer Länder Wert und Zahl,

Saßen viele deutsche Fürsten

Einst zu Worms im Kaisersaal.

[…]

Eberhard, der mit dem Barte,

Württembergs geliebter Herr,

Sprach: „Mein Land hat kleine Städte,

Trägt nicht Berge silberschwer;

Doch ein Kleinod hält’s verborgen:

Daß in Wäldern, noch so groß,

Ich mein Haupt kann kühnlich legen

Jedem Untertan in Schoß.“

Bei aller Lebensfreude war Kerners Charakter von einer wehmütigen Melancholie geprägt. Er spielte gerne auf der Maultrommel, um seine Stimmungen auszudrücken und auch anderen zu helfen. Auf dem Gemälde hält der das geliebte Instrument in der Hand. (Abb. 4: Kerner mit Maultrommel) Als Medizinstudent soll er auf diesem volkstümlichen Musikinstrument dem als geisteskrank geltenden Hölderlin im Tübinger Klinikum vorgespielt haben. Die Windharfe (Äolsharfe) auf der Burgruine Weibertreu bei Weinsberg, die Kerner installierte, sollte die Natur zum Klingen bringen und kann heute noch von Besuchern gehört werden. (Abb. 5: Burgruine Weibertreu; Abb. 6: Dicker Turm, Äolsharfe)

Bei allem Engagement, aller liebevollen Zuwendung, die Kerner als Oberamtsarzt für seine Patienten aufbrachte, blieb er sich der Grenze seiner ärztlichen Kunst bewusst, vor allem der Tatsache, dass gegen den Tod kein Kraut gewachsen ist. Hier die beiden ersten Strophen seines Gedichts »Der Kranke an den Arzt«, das durchaus als Selbstgespräch zu verstehen ist:

Arzt! o laß dein schmerzlich Heilen!

Weh zerreißt dein eignes Herz,

Und doch kannst du tröstend eilen

Täglich, ach! zu neuem Schmerz.

Sieh! für all die tausend Wunden

Wächst dir doch kein heilend Kraut,

Hast du eines auch gefunden,

Stillt’s kaum einen Seufzerlaut.

Auch das Gedicht »Der Wanderer in der Sägmühle« (1826) handelt vom Umgang mit dem Tod. Es war, wie man lesen kann, Franz Kafkas Lieblingsgedicht. Hier nur die beiden ersten und die letzte Strophe:

Dort unten in der Mühle

Saß ich in süßer Ruh‘

Und sah dem Räderspiele

Und sah den Wassern zu.

Sah zu der blanken Säge,

Es war mir wie ein Traum,

Die bahnte lange Wege

In einen Tannenbaum.

[…]

Vier Bretter sah ich fallen,

Mir ward’s ums Herze schwer,

Ein Wörtlein wollt‘ ich lallen,

Da ging das Rad nicht mehr.

Kerner hat auch einige Prosatexte verfasst, die zwar weniger bekannt sind als seine Gedichte, gleichwohl heute noch lesenswert sind: Ich verweise auf seinen Roman »Reiseschatten von dem Schattenspieler Luchs« (1811), sein poesievolles Sachbuch über Heilquellen »Das Wildbad im Königreich Württemberg …« (1812), die Erzählung »Die Heimatlosen« (1816), seine köstlich zu lesende Autobiografie »Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit« (1849) und schließlich sein letztes Werk: »Franz Anton Mesmer aus Schwaben, Entdecker des thierischen Magnetismus« (1856), die erste und wichtigste Mesmer-Biografie. (Abb. 7: Mesmer-Biografie, Titelblatt) Sie endet mit dem Gedicht »Auf Anton Mesmers Grab«. (Mesmer starb 1815; man muss wissen: sein Grab liegt auf einer Anhöhe hinter Meersburg mit einem wunderbaren Ausblick auf den Bodensee.) (Abb. 8: Mesmers Grab) Die letzten Verse lauten:

Als ich schied, sank schon die Sonne in der Fluten goldne Pracht,
Goß des Mondes mag’scher Spiegel seine Zauber durch die Nacht,
Sanfte Töne hört‘ ich tönen wie aus seinem Grabe – da
Dacht‘ ich seiner [Mesmers] letzten Worte: „Spielt mir die Harmonika!“

Die Glasharmonika oder Glasharfe, von Benjamin Franklin 1761 nach dem Prinzip der Elektrisiermaschine erfunden, war Mesmers Lieblingsinstrument, das er zur Intensivierung seiner magnetischen Kuren einsetzte. (Abb. 9: Glasharfe mit B. Franklin) Übrigens: Der junge Wolfgang Amadeus Mozart, der öfters mit seinem Vater zu Gast bei Mesmer in Wien war, bewunderte das Spiel des Gastgebers auf diesem Instrument. Auf den Einfluss des Mesmerismus auf Kerners ärztliches Denken und Handeln komme ich noch zurück.

Abb. 3: Justinus Kerner im Freundeskreis im Garten seines Hauses in Weinsberg
https://www.wikiwand.com/de/Kernerhaus
Abb. 4: Justinus Kerner mit der Maultrommel, seinem Lieblingsinstrumente
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Justinus_Kerner_1852_von_Ottavio_d%27Albuzzi.jpg
Abb. 5: Burgruine Weibertreu oberhalb von Weinsberg
https://www.wikiwand.com/de/Burgruine_Weibertreu

Abb. 6: Burgruine Weibertreu, Dicker Turm mit Windharfe und Inschriften namhafter Besuchert; https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Burgruine_Weibertreu_Dicker_Turm_innen_20060524.jpg

Abb. 7: Titelblatt von Kerners Mesmer-Biuografie (1856)
Mesmers Grabmal aus dem 19. Jahrhundert, restauriert anlässlich seines 200. Todestags am 15.03.2015; Foto: H. Schott (2015)
Abb. 9: Benjamin Franklin auf der von ihm instruierten Glasharfe; https://www.haw.uni-heidelberg.de/presse/pm-20140701_akademiesalon_2014.de.html

Justinus Kerner (1786-1862): Dichter, Arzt und Naturforscher (2021) — TEIL 1

Zum Kontext des folgenden Vortrags siehe diesen Blog-Beitrag. Er wird auch als Video auf Youtube zur Verfügung stehen. Sobald er dort erscheint, werde ich hier den betreffenden Link angeben.

Update vom 1.09.2021: Mein Vortrag ist als Video auf Youtube erschienen.

n welcher Zeit lebte Justinus Kerner?

Justinus Kerner wurde 1786 in Ludwigsburg als sechstes Kind eines Oberamtmannes geboren und starb als Oberamtsarzt 1862 in Weinsberg. Bevor wir auf diesen schwäbischen Arztdichter zu sprechen kommen, sollten wir uns kurz vergegenwärtigen, in welcher Zeit er lebte. Das kann ich hier nur in Stichwörtern andeuten: Aufklärung, Absolutismus, aufgeklärter Absolutismus, Französische Revolution, Napoleon, Restauration, Biedermeier, Märzrevolution, Dampfmaschine, Eisenbahnbau, industrielle Revolution, Entstehung des Proletariats, Arbeiterbewegung. Zu seinen Zeitgenossen zählten Hölderlin und Hegel, Beethoven und Schubert, mit seinen schwäbischen Landsleuten Eduard Mörike und Ludwig Uhland war er freundschaftlich verbunden. Während Beethovens Musik heute täglich im Radio zu hören ist und sein Name jeder kennt, hat von Justinus Kerner außerhalb des Schwabenlands kaum jemand gehört. Freilich kennen auch viele Nicht-Schwaben den Kerner-Wein, eine von der Weinbauschule in Weinsberg, der ältesten in Deutschland, kreierte Neuzüchtung der 1930er Jahre, die man nach ihm benannt hat (gegen den anfänglichen Widerstand des damaligen Kernervereins).

Doch für unser Thema wichtiger sind Medizin und Gesundheitswesen jener Zeit. Ich möchte die Situation im frühen 19. Jahrhundert kurz umreißen. Wir befinden uns am Vorabend der naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Medizin und ihrer klinischen Entfaltung und fachlichen Spezialisierung. Die Zellbiologie steht am Anfang, Bakterien oder gar Viren sind noch nicht nachweisbar, dementsprechend sind Antisepsis und Asepsis bei chirurgischen Eingriffen unbekannt und Antibiotika oder Psychopharmaka kommen erst im darauffolgenden 20. Jahrhundert ins Spiel. So konkurrieren zu Kerners Zeit recht verschiedene Heilkonzepte miteinander, ohne dass es in der Medizin eine Leitwissenschaft gibt, etwa vergleichbar mit der Bakteriologie um 1900 oder der heutigen Molekularen Medizin. Um welche Konzepte handelt es sich? Im Folgenden seien die wichtigsten genannt: Galvanismus und Elektrotherapie, Brownianismus (eine Art Gegenreiztherapie nach der Lehre von John Brown), Gallsche Schädellehre (später als Phrenologie bezeichnet), Hydrotherapie (Kaltwasserkur vor Kneipp), Diätetik (Lehre von der gesunden Lebensführung, nach Hufeland »Makrobiotik« genannt), Humoralpathologie (modifizierte traditionelle Vier-Säftelehre), Homöopathie (nach Samuel Hahnemann), und – was für Justinus Kerner besonders wichtig war, wie wir sehen werden – animalischer Magnetismus (den man allgemein als Mesmerismus bezeichnet) und romantische Tiefenpsychologie (die naturphilosophisch begründet war).

Die politisch, kulturell und wissenschaftlich faszinierenden Gemengelage im frühen 19. Jahrhundert lässt sich an den Biografien der damaligen Naturforscher und Ärzte ablesen, die sich oft als Botaniker, vergleichende Anatomen, Geowissenschaftler, Naturphilosophen und eben auch als Dichter und Literaten in einer Person betätigten. Denn damals gab es noch keine scharfe Abgrenzung zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen und den schönen Künsten, zwischen Naturbetrachtung und Poesie, zwischen Naturforschung und Dichtung, denken wir nur an die Leitfigur jener Epoche, nämlich Goethe in Weimar.

Aber auch Kerner in Weinsberg kann auf seine Weise als ein Leitfigur begriffen werden. Die Autofahrer unter Ihnen kennen von den Staumeldungen vielleicht das »Autobahnkreuz Weinsberg«. Nehmen Sie einmal, wenn Sie vorbeikommen, die Ausfahrt nach Weinsberg. Sie können dann in wenigen Minuten das Kernerhaus erreichen, den authentischen Ort seines Wirkens, in dem er mit seiner Familie gewohnt und praktiziert hat. (Abb. 1: Kernerhaus historisch / Abb. 2: Kernerhaus heute) Sie sind dort mit einem eindrucksvollen Ensemble von originalen Exponaten konfrontiert und können in diese uns fremd gewordene Welt eintauchen, die ich Ihnen mit meinem Vortrag etwas näherbringen will.

Abb. 1: Kernerhaus 1826
https://www.wikiwand.com/de/Kernerhaus
Abb. 2: Kernerhaus heute, vom „Geisterturm“ aus gesehen
https://www.wikiwand.com/de/Kernerhaus

„Du weißt, geliebte Königin …“: Novalis und die Magie der Natur (2017)

Diesen Vortrag habe ich im Rahmen der Festwoche zum 245. Geburtstag von Georg Philipp Friedrich von Hardenberg (Novalis) vom 4. bis 7. Mai 2017

„’Construction der transscendentalen Gesundheit‘: Novalis und die Medizin im Kontext von Naturwissenschaften und Philosophie um 1800“

am 6. Mai 2017 im Schloss Oberwiederstedt gehalten, wo Novalis am 2. Mai 1772 geboren wurde.

Hier mein Redemanuskript als PDF.

Hier die dazugehörige Powerpoint-Präsentation.

Update vom 15.04.2020:

Der betreffende Artikel erschien soeben im Sammelband:

Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik

herausgegeben von der Internationalen Novalis-Gesellschaftin Zusmmenarbeit mit der Forschungsstätte für Frühromantik Schloss Oberwiederstedt

Jahrgang 5/2019 (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019), S. 39-57.

In diesem Blog-Beitrag der Link zur PDF.